lundi 16 mai 2011

SAG' ALIZE

Und dann geschah das Seltsame, für mich an ein kleines Wunder Grenzende: Noch im selben Sommer vor 29 Jahren veröffentlichte ich einen zweiten, kleinen Reisetext in der Reihe ANDERS REISEN GRENZENLOS, herausgegeben von Manfred Waffender bei Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.

HIER IST ER:


Ob das wohl dazu gehoert? Die Nacht kein Auge zugedrueckt, hot-down-town-summer-in-the-city-party, eingeschlafen erst am spaeten, helllichten Nachmittag im lauwarmen Wasser einer Badewanne dreiunddreissig Stock hoch 68. Strasse(West). Aufgewacht mit nicht gelindem Schrecken durch Ullas kleinen Schrei, es war so lange still geblieben hinter der Badezimmertuer. Sie sah mich schon blutueberstroemt auf Fliesen liegen oder blau angelaufen unter Wasser.



Verstoert und mutig trat ich auf den Balkon. Vermied, mir die Bauart all der anderen Balkone naeher anzusehen. Mein Blick fiel schraeg und tief hinunter auf den grossen Park, in dessen Baeumen der Wind spazieren ging. Also nichts wie los, und schon fielen wir durch den Aufzugsschacht.



Hier unten, auf einer weiten, gruenen, eingezaeunten Wiese, spielen sie, springen, tanzen, treiben Akrobatik unter aller und der Parkwaechter Augen. Sie geniessen die Geschicklichkeit ihrer Bewegungen, schamlos sinnlich und ganz oeffentlich. Ein wenig show ist auch dabei, bei ihrem wunderbaren, unendlich wiederholten Geschaeft. Frizbees schwirren durch die Luft, finden im Flug auf Zeigefinger oder hochgeworfene grosse Zehen, spielen Versteck hinter einem Ruecken und – umgedreht und fortgeschleudert. Spielt hier denn niemand Ball? Doch, dort eine Frau und gleich mit dreien.



Vor mir jetzt ein kleines Tal, Rauch steigt zwischen den Baeumen auf. Ich schnuppere, ein suesslicher Geruch. Ich lass’ mich fangen: harter disco-beat and another one bites the dust. Fuer Augenblicke kommt Dvorjak dazwischen, ist dann wie abgeschaltet ueber einer Rollschuhflaeche. Hier huepfen, schwingen, fliegen sie, roller-disco-dancing, alle auf einem Sender, jeder fuer sich und fuer die Zuschauer. Das macht uns an, wir bleiben stehn.



So als koennten die Beine nicht genug bekommen vom Rausch in ihren Muskeln, baumeln bunte Baellchen, Federbueschel an dieser, jener Huefte. Hauteng die Trikots und Hemdchen, ausgefranst und kurz unterhalb der Brueste abgeschnitten. Zeigt Bauch!



Ja, ja, heute ist Sonntag. Ice-cold-beer-one-dollar, gib schon her and another one bites the dust. Zuviel Bewegung fuer einen, der nur zusieht. Muss mich setzen, hier die Bank unter den Platanen und vor dir ein schoenes, buntes Durcheinander von Stehenden und Gehenden, von Warten, Rufen, Kinderschreien und hinten die fromme Gemeinde in Dvorjaks Neunter.



Und hinter dir? Schiller, Friedrich. Haette’ste das gedacht? Wohlig streckst du dich, und alle Menschen werden Brueder. Nur, dass da ein lieber Vater wohnen soll, ueberm Sternenzelt, das verzeihst du nicht. Steh’ auf und geh’! Bevor dir’s Wasser in die Augen tritt. Hier geht es lang. Der Weg ist asphaltiert und hinter Bueschen gleich verschwunden. Schiller, mein Gott. Irgendwo soll auch Goethe stehen. Lassen wir den, fuer heute. Sieh mal, die Eichhoernchen sind grau in New York, und immer noch ist es schoen. Ganz furchtlos knabbert eine ratte an einer Erdnussschale. Glaubt wohl, sich nicht fuerchten zu muessen. Kommt ein Jogger, sieht die Ratte, sagt: Go, kill her. Take a stick. Ist schon vorbei und ich rufe noch: No!

Wir sind durstig und kommen an einen Teich. Hier gibt’s Eis. Es ist ein Teich fuer Grossmuetter und ihre Enkel. Wenn die Geschichten der Grossmuetter langweilig zu werden drohen, rennen die Enkel ans Wasser. Geh nicht zu nah ran. Fall nicht ins Wasser! Rufen die Alten dann. Ruhig liegt der Teich da, in dem die Kinder sich, die Baeume und die Wolkenkratzer spiegeln. 5th Avenue und die Strassen rueber zum East River, du weißt noch viel zu wenig von den Schluchten dazwischen.



Das amerikanische Eis, sagt Ulla, ist das sahnigste Eis auf der ganzen Welt, moechtest deine Zunge dran verlieren. Ach, sage ich. Und langsam gehen wir auf die andere Seite des Teiches, Hans Christian Andersen ueber die Schulter zu sehen. Da sitzt er nun mit langer, kluger Nase, auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch, das Haessliche Entlein zu seinen Fuessen. Wir lesen mit:



“Wie gross ist doch die Welt!“ sagten alle lebendig gewordenen Eidotter, denn nun hatten sie freilich viel mehr Platz als sie noch drinnen im Ei lagen.



“Glaubt ihr, dass dies die ganze Welt ist?“ fragte die Mutter, “die erstreckt sich noch weit ueber die andere Seite des Gartens, aber da bin ich noch nie gewesen.“



Wir gehen weiter. Schluerfen das Eis hastiger. Es soll uns nicht davonlaufen in dieser Hitze um 37 Grad im Schatten. Und noch ein Denkmal, Alice in Wonderland, von ihren Tieren umgeben, hat die rechte Hand ausgestreckt. Sanft glaenzt ihr Zeigefinger in der Abendsonne, so abgegriffen ist er. Alle wollen Alices Fingerspitze, du auch. Aber da glaenzt noch etwas. Senkrecht unter der Fingerspitze eine Schnecke im Abendlicht, blank getreten ist sie und aus Bronze.



“Moecht’st deine Zunge dran verlieren, an diesem Eis“, sagt Ulla. Los, denk’ ich, frag’ sie schon. “Sag’, Alize, wo bin ich? Bin ich - ?“



“Central Park, mein Junge. New York City.“

PS
Wie kam ich, ein mittelloser Hausmann, nach New York?
Mit dem Drittel der Summe, die mir der RIAS BERLIN für die Rundfunkfassung von "'S IST KRIEG!" gezahlt hatte. Das waren damals zweitausend Mark, viertausend gingen in die Haushaltskasse. -Warum schrieb ich nicht weiter? Weil ich als Vater von drei Kindern Geld viel mehr Geld verdienen musste, als ich glaubte mit dem Schreiben verdienen zu können. Jenes Geld verdiente ich dann in Japan.

LOISAIDA




Cover des 1982 im Claassen Verlag Düsseldorf von KP, Klaus-Peter Herbach selig und Assen Assenov herausgegebenen Buches New York, Die Welt noch einmal, Deutsche Schriftsteller erleben die Stadt

Auf einmal war ich, Jahrgang 1941, unter die Schriftsteller katapultiert. Und war doch keiner. Dafür war ich ein Jahr später in Japan, wusste nur noch nicht, dass ich dort statt zwei, zwanzig Jahre lang leben würde. Hinten in diesem Buch, das ich jetzt aus dem Büchermeer der Bibliotheken ziehe, um es in die Ozeane von Google und Konsorten zu werfen, steht unter ‘Autoren‘: geb. 1941, lebt in Berlin, veröffentlichte zuletzt ‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!, Berlin 1981. Zuletzt? Als hätte ich schon zuvor! Dabei hatte ich da vor noch nichts veröffentlicht, außer einem schmalen Buch, fast noch ein Heft, unter dem Titel Schüsse in Dombrowskis Bauch(1980) in dem mutigen Kleinverlag Prometh, Köln.

Seiner Zeit, also vor nun schon knapp 30 Jahren, war Loisaida aktuell, weshalb auch er von den Herausgebern in ihre New York-Anthologie aufgenommen worden sein dürfte. Ganz schön lebendig finde ich ihn heute noch mit seinen Brechungen, Schnitten und Perspektivwechseln. Verhinderter Nachkömmling von John Dos Passo! Und doch war ich das, unverwechselbar ich – meine Stimme. In Loisaida klang sie an, das gute alte SZ! Eine Stimme aufnehmen wie einen dünnen, roten Faden.

Immer noch diese alberne, unverwüstliche Schreiblust. Und dann, peinlich geradezu, dieser lächerliche Impuls, einen meiner verschollenen Texte heute noch korrigieren zu wollen. Müsste es zum Beispiel im dritten Absatz, zweite Zeile nicht ‘wurden‘ statt ‘werden‘ heißen? “Hier wurden sie, vor jedem melting pot, weich geklopft oder hart gekocht.“ Oder, kurz bevor Margery wieder zu sich kommt und zum zweiten Teil ihrer ‘Rede zum 205. Geburtstag der Vereinigten Staaten von Amerika“ anhebt, müsste es da nicht statt ‘scheint‘ ist heißen?

Plötzlich diese Lust auf Loisaida!

Warum? In einem Anfall von Nostalgie? Zurück in den Anfang meines Scheiterns als Schriftsteller? Nein! Noch mal auf die Feuerleiter des schönen Scheins. Von nun an, wo ich doch seit wenigen Tagen auf die Achtzig zugehe. Aber, warum nicht warten auf den 4. Juli 2012? Nach dreißig Jahren . . . Ich mag die Nullerjahre nicht.

Hier also der Text selber:

Entscheide dich. Dir ist es möglich. Der Tag, der auch hier herauf-
kommen kann, oder die Nacht, die über diesen Teil der Stadt gefallen
ist.
Es ist spät an diesem 4. Juli 1981. Ich komme vom Battery Park,
Macy‘s Feuerwerk zu Ehren des 205. Geburtstages der Vereinigten
Staaten von Amerika ist ins Wasser gefallen. Es verpuffte im Regen
aus schweren, tief hängenden Wolken. Manch eine Rakete hat sie
durchstoßen. Ich laufe durch die Gegend um Wall Street, jetzt durch
Chinatown. Ich möchte zu einer Filmvorführung in der Lower East
Side. Weil es schon so spät ist, möchte ich telefonieren. Klappt nicht.
Die offenen Telefonboxen sind unbeleuchtet und alles in Chinesisch.
Ich gehe durch die Orchard Street, kein buntes Kleidergewirr über
dir um diese Zeit, aber Namen: Abraham & Kaufmann, Sarah Rosen-
strauch. Juweliere, Pelz- und Kleiderhändler, einige Läden sehen so
aus, als würden sie auch morgen Vormittag nicht öffnen.
Die Lower East Side, immer noch ist sie Stütz- und Anlaufpunkt für
Völkerwanderungen. Hier werden sie, vor jedem Melting Pot, weich
gekocht oder hart geklopft. Engländer, Holländer, Deutsche und Ju-
den, heute sind es Portoricaner, sie werden sich nicht die Türen in
die Hände gegeben haben, früher die Vertriebenen der ersten, heute
die der dritten Welt. Lower East Side, Loisaida von Houston bis zur
14., von Avenue A bis D - nachts sei hier schlecht gehen als Fremder.
In den Straßen ist es so dunkel, daß ich die bewohnten von den un-
bewohnten, verlassenen, zerstörten Häusern nicht unterscheiden
kann. Kauf dir ein Bier oder zwei. Alle machen das hier. Laufen mit
ihrem Getränk nicht nur der Hitze wegen auf den Straßen. Da der
Genuß von Alkohol in der Öffentlichkeit verboten ist, werden je nach
Flaschengröße und Anzahl der Mittrinkenden Papiertüten mit einge-
packt. Es gibt Wichtigeres, als sich wegen ein paar Schluck auf der
Straße mit der Polizei anzulegen. Und so siehst du überall, wie die
Leute ihren Alkohol in braunem Packpapier verstecken. Sichtbarer
geht”s nicht.
Der, wie wir sagen würden, Kaufmannsladen ist bis gegen 22 Uhr 30
und noch länger auf.  An einem einzigen, gläsernen Eisschrank die
Wand entlang suchst du dir deine Biersorte. Budweiser, Heineken,
Löwenbräu, aber auch Miller und Schaefer, das scheinen die Ab-
kömmlinge der alten, ehemals deutschen Brauereien in New York zu
sein. Hier steht Lagerbier. Bier, nach dem die deutschen Sozialisten
im vorigen Jahrhundert genannt wurden, als sie in den großen Bier-
gärten der Bowery sich den Kopf über die notwendige Veränderung
der Welt zerbrachen, derweil die Iren, später auch die Juden die Ver-
waltung der Stadt samt Organisation der Arbeiterbewegung in die
Hand nahmen.
Nimm Lagerbier. Es ist in diesen schönen, soliden braunen Flaschen
abgefüllt, der Hals lang genug, um eine Hand darum zu spannen. Die
Kamera in die Einkaufstüte, die erste Flasche in die rechte Hand und
an den eigenen Hals, das sind zwei schnelle Griffe, und ruhiger schon
gehst du die 4. Straße Richtung East River. Kein Parkplatz wäre hier
zu ?nden, auch in der zweiten Reihe parken sie. Die Türen zum Bür-
gersteig weit aufgerissen, die Radios voll aufgedreht, so bilden sie das
eine Ende des kurzen Wegs quer übern Bürgersteig. Das andere
Ende bleibt im Dunkeln der Ruinen. Dazwischen die watcher, sit-
zend mit dem Rücken an den Häuserwänden oder gemächlich her-
umschlendernd. Einer geht ein kleines Stück mit mir: Drugs? Shit?
Kokain?
Wie gehst du denn? Gehst du zu schnell, zu langsam? Machst du
nicht viel zu große Schritte, oder sind sie etwa zu klein? Vergiß nicht,
die Füße gut abzurollen, bitte, wie es sich gehört, von der Ferse bis
zur Fußspitze. Sie sehen alles, haben dich längst taxiert. Der da, ein
leichter Fall, wird sich nicht wehren.
Täuscht euch nicht, seht – und  nun, ‘nen langen, kräftigen Schluck – ,
seht dies Fläschchen hier. Gefällt es euch? Wer mich anrührt, dem
ramme ich den abgeschlagenen Flaschenhals in den Bauch. - Ruhi-
ger werden. Vorgestern erst haben sie hier einen zu Tode gehetzt.
Sie werden dich nicht zuerst anfassen, und ins Gefängnis willst du
nicht.
Geh weiter und denk mal drüber nach, was Bimbo Rivas, der Dichter
dieser Straße, dir erzählte. Jeder kleine Straßenhändler will hier
ohne Lizenz seine selbstgemachte Ware verscheuern, T-Shirts geba-
tikt, Schmuck und Schnitzereien, und wer dabei erwischt wird, der
wandert ins Gefängnis. ]a, hier herrscht Ordnung. Hinter der Polizei
stehen die Geschäftsinhaber und Steuerzahler, die fürchten die Kon-
kurrenz der armen Schlucker auf den Straßen. Ganz anders die Dro-
genhändler, die leben am langen Zügel. Noch gibt‘s da keine Steuer-
kontrolle, keine legale wenigstens.
Die machen alles unter sich ab, da kennen sie nichts. Neulich soll
einer durchgedreht sein. Plötzlich kommt er auf die phantastische
Idee, seinen Nachbarn, wenn sie nachts den Morgen auf der Straße
erwarten, den Hals aufzuschlitzen. Jetzt sitzt er im Gefängnis und soll
bei seiner Festnahme geschrien haben: D‘nt kill me!
Trink das süffige Lagerbier und geh.  4. Straße zwischen Avenue B
und C, zwischen C und D bist du zu Hause. Trink auch die zweite
Flasche, man kann nie wissen. Plitschnaß bist du. Regnet immer
noch, ein Glück. Habe mich an die Ruinen gewöhnt und die bewohn-
ten von den unbewohnten unterscheiden gelernt. In den ersten ist
wenig Licht, in den zweiten hört man Stimmen. Loisaída: ein Verließ,
seine Bewohner wandern ab und an ins Gefängnis. Während du
gleich in der 310 und damit zu Hause bist, gehen sie ihren Weg.
Der Portoricaner Paul Rodriguez tötet den Weißen Michael John-
son wegen einem Paar Schuhe. In der Loisaida geschieht es mit dem
Küchenmesser, in Rikers Island mit einem zugespitzten Suppenlöffel.
Rikers Island, da sitzt auch Chapman, der Mörder von John Lennon –
he is still alive (natürlich) –  und mußte sich »Blöde Fotze« schimp-
fen lassen von Crimmins, dem Metropolitan-Mörder (die hübsche
Violinistin ist jetzt tot). Seither schweigen beide. Chapman ist belei-
digt.
310, ein schmuckes, sechsstöckiges, wiederhergerichtetes Haus, ein
Aufzug, vierter Stock, den Schlüssel rumgedreht und – Ende  der
Filmvorführung, Licht an, komme gerade recht.
Knapp zwanzig Leute sind da, drei wollten kommen, eine ››small ex-
tended family«, sagt meine Schwester und kümmert sich einen
Scheißdreck um Getränke, bitt schön. Alle bewegen sich Richtung
Eisschrank, eine ältere weiße Amerikanerin, schwarze Amerikaner,
Griechen, Frauen aus Santo Domingo neben Portoricanern.
Da ist Bimbo Rivas, ich werde sein zerschlagenes Gesicht nicht ver-
gessen, kleiner, tapferer Mann und Dichter, der nicht umhin zu kom-
men glaubt, auch mal seine Frau zu schlagen. Margery ist hübsch
und verschmitzt. Einmal kam sie mit einer tiefen Wunde am Hals
nach Hause. Jemand hatte sie mit einem Teppichmesser verletzt.
Diesmal soll Bimbo gar nicht erst angefangen haben.
Margery, wahrscheinlich hieß sie einmal Marguerita, ist heute abend
schön in Fahrt. Sie redet wie ein Wasserfall, und beinahe alle hören
zu.
Wie war das eben noch in unserem Film? Was sang der Sänger Ed-
gar? »Children die, mothers cry, Lower East Side is taken my life
away.« Jetzt holt sie noch einmal tief Luft und beginnt mit dem, was
ich später “Margy‘s Rede zum 205. Geburtstag der Vereinigten Staa-
ten von Amerika« nennen werde. Draußen kracht es unablässig, drin-
nen das eine Wort vernichtend, ein anderes untermalend.
...dann sind sie also alle abgehauen hier vor ein paar Jahren, erst
die Besitzer, dann die Mieter der Häuser. War ja auch nicht mehr
zum Aushalten.
Mal abgesehen von denen, die dazukamen, ein paar arme Hunde wie
wir, waren wir noch da und hatten uns an die drug-scene lange schon
gewöhnt. Wir, das ist Bimbo, mein Mann, der arme Hund und Dich-
ter, wir, das bin ich, Hündin und Tänzerin, das sind unsere Kinder
und Freunde und Nachbarn und du und du und - wie wir so sitzen
hier und  jetzt, Sally, Chino, ]enny, Mary, Tony, Marlis.
Wir tun immer noch so, als sei auch die Loisaida ein big red apple.
Immer noch kämpfen wir für unsere kleinen Happen. Immer noch – wie
 lange noch? – träumen  wir vom Biß.
Marlis: Aber halten wir nicht zusammen, kämpfen wir nicht?
Margery:  Na klar halten wir. Aber tun, wir müssen mehr tun zusam-
men. Wir tun zu wenig für die Gesundheit unserer Kinder, für ihre Er-
ziehung und für ihre Kreativität. Ich sehe es doch an mir: Ich kümmere
mich manchmal einen Dreck. Und warum?
Weil ich selber kaum habe, was ich brauche, meinen Tanz zum Beispiel.
Von draußen faucht und knallt es herein, schreit drinnen alles und lacht
durcheinander. Fourth of_]uly regnet es dünn und warm. Alles glänzt im
Licht der einen Laterne, die wirklich brennt vor diesem Haus, alles: die
Gesichter der Menschen unten, die Karosserien der Autos, die Pfützen
auf Straße und Bürgersteigen, glitschig vor Nässe und Dreck.
Margy: Und dann Filme über uns, Bilder und Gedichte. Ich halt‘ das
nicht mehr aus. Alles für die Katz, alles fucked up. Das bringt uns
nicht hoch, das zieht uns runter.
Tony: Dängdäng, degedegedängdängdäng.
Margy: Ja, du weißt doch auch Bescheid. Weißt schon, was ich meine.
- Alles ist schön, und alles ist Scheiße.
Tony: Alles ist schön, und alles ist Scheiße, derängdängdäng.
Margy: Zusammenhalten, okay. Aber warum nur, wenn wir high
sind?
Tony: Alles ist schön, und alles ist Scheiße.
Margy: Oh, du verdammter motherfucker – Tony. Wir wollen den
Überblick und raus hier. Oder?
Tony: Okay, honey. Wir wollen unsere Leben zusammenschmeißen,
und sie hauen uns auseinander. Alles ist . . .
Sally: Für die paar Brocken, die sie uns hinschmeißen in diesem Le-
ben. Na, das wollen sie doch. Das ist ihre große Hoffnung: Wir wer-
fen uns wie die Köter drüber, und sie haben ihre Ruhe. Klar?
Sally liegt schwer und schwarz in einem Sessel, schläft jetzt einfach
weg. Hört Bimbos meckerndes Lachen nicht mehr. Tony ist das La-
chen vergangen, trommelt sich einen auf den Oberschenkeln ab,
blickt erst mal nicht mehr noch. Margy scheint noch nicht am
Ende.
. . . die Schnauze voll jetzt, bin fertig jetzt mit meinen neunundzwan-
zig  Jahren. Haue jetzt ab, gehe zurück auf meine Insel, wo ich gebo-
ren bin. Kinder kommen mit. Bimbo will hierbleiben. Okay, Bimbo,
bleib nur, schreib nur weiter deine Gedichte und laß dir in den
Arsch treten. Alles umsonst, Liebling!
Und vergiß das Demonstrieren nicht, das Kämpfen. Alles unbezahlt,
alles freiwillig. Alle arbeitslos! Arbeit brauchen wir, verdammt noch
mal, anständige Arbeit, keine für 2 Dollar 35 Cent die Stunde.
Und warum kriegen wir keine anständige Arbeit? Weil wir nicht qua-
lifiziert sind! Und warum sind wir nicht qualifiziert? Weil wir zum
Beispiel nicht in der Gewerkschaft sind! Und warum sind wir nicht
in der Gewerkschaft? Weil wir alle Zuhälter nicht ausstehen, einfach
nicht ausstehen können. Ich hasse die pimps der Armen.
Krach, Buum, Bäng - das ist die Lust der Armen in der Loisaida, und
langsam siehst du die verpufften und verrauchten Dollarnoten die
Gullys runterfließen. Aufbruch. Erleichtertes Lachen der Männer.
Was haltet ihr denn von morgen, he? Manyana, Manyana! Valante!
Da geht das Licht aus, und ein irres Gejohle hebt an. Margy ist
nicht mehr zu halten. I want a jaaaooob! l go dancing know! Bailar!
Und Tony hopst herum und singt: Loisaida neva takes my life away!

Nie wird es ganz dunkel im Sommer in New York, auch in der
4. Straße Ost nicht. Meine Schwester geht schlafen. Ich gehe auch
gleich. Da klingelt das Telefon. ››We are going to mug your building!«
Lachen, Gröhlen, aufgehängt. Ich habe ungefähr verstanden und ver-
suche, meine Schwester zu wecken. Die will nicht mehr zu sich kom-
men. Same people, same people. Was soll denn das heißen?
Ich trete durch das hochgeschobene Fenster auf die Feuerleiter. Über
mir der Himmel, so weit wie das Meer, das man leicht vergißt und an
dem diese Stadt doch liegt. Aber es ist nicht nur das Meer, das diesen
Himmel jetzt so rosa und lila und blau färbt. Es sind auch die Aus-
dünstungen des big red apple.



samedi 7 mai 2011

An den Grenzen meines Denkens (Gregory Forstner)

AUSTELLUNG IN DER GALERIE DUBOIS FRIEDLAND IN BRÜSSEL CAROLE BENZAKEN - GREGORY FORSTNER - THOMAS FOUGEIROL - HERVÉ IC

 

vendredi 6 mai 2011

Heimweh nach der Barbarei 1


Ich lasse mich gerne verführen. Auch in Ausstellungen, aus denen ich dann müde herauskomme. Weil meine Augen sich satt gesehen haben. Diesmal     Ein Zahnarzt hat eine soldatische Frau in der Mangel. Er trägt die hohe, weiße Mütze der Köche auf seinem Totenschädel. Und er lacht vor Freude, weil es gleich kracht und er seiner Patientin ein paar Zähne ausgebrochen hat. Sie ist fest im Griff des  Zahnklempners mit  seinem blau weiß gestreiften Sträflingskittel, der rechte Arm in einem gelben Puffärmel. Die Soldatin hat eine Maschinenpistole unterm Arm und zielt blind vor Angst oder Schmerz auf den Zeugen ihrer Folterung. Der trägt einen Stahlhelm über der brennenden Zigarette in seinem Hundemaul. Er sieht nicht nur seelenruhig zu, er ist fasziniert und so hingerissen, dass ihm der Arm gleich von der Kante des Tisches rutscht. Dieser Tisch ist ein braunes Fass. Das soldatische Paar trägt Pantoffeln, statt Stiefel. Das Bild heißt The Witness(2008).

     Das kann ja heiter werden.

Rollentausch. Häftling foltert Henker. Warum nicht? Auch das ist mehr als möglich, heutzutage. Die Ausstellung übertrifft meine Erwartung. Ich bin in ein Gruselkabinett geraten. Ernst Jüngers Abenteuerliche(s) Herz(1929) schlägt mir aus dem Hals. Die erste großen Weltwirtschaftskrise geht mir durch den Kopf. Als Jünger durch die deutsche Hauptstadt flanierte, blieb er plötzlich vor den Auslagen einer Menschenschlachterei stehen. Ein böser Zauber, gut so ! Wenn wir unsere Welt nicht verzaubern, gehen wir mit ihr unter. Dieser Maler ist ein Zauberer.

     Um mich lauter grün uniformierte Menschenhunde: Henker, Opfer, Zeugen und ich. Ab und zu ein Spaß- und Galgenvogel, ein Possenreißer. Verkehrte Welt! Ihre Rätsel machen schwindelig. Ich muss mich setzen und schaffe es gerade eben noch bis auf eine Sitzbank, neben einen jungen Mann. Ich bin der Maler, grüßt er mich und fragt, ob er mir behilflich sein könne. Und schon waren wir im Gespräch über seine Bilder.

       Zu schön, um wahr zu sein, so ein Gespräch mit einem Maler in seiner Ausstellung. Aber dann offenbarte sich mein Maler als geschickter Lügner: „ Ich äffe die Wirklichkeit mit Hilfe bestimmter Kniffe nach und  vertreibe mir die Zeit damit.“ 

     Schön wär’s!

     In Wirklichkeit bin ich ja nicht in einer Ausstellung, sonder sitze an meinem Schreibtisch. Und statt der Bilder im Original habe ich einen Papierwarenladen um mich: Kataloge und Kopien, so wie eine Flut über den Atlantik gesegelter Briefe jenes mir bis vor kurzem noch ganz unbekannten Malers. Gregory Forstner in seinem Atelier in Brooklyn/ New York und ich auf einem Hügel in der Auvergne. Wo ich mich von einem  grausigen Karneval vom Hocker und in den ersten Saal meiner imaginären Ausstellung reißen lasse.

     „DIT IS DE MINJ“ steht über dem Eingang und ich bleibe vor dem Autoportrait(1999) stehen. Gregory Forstner als Marionette eines nackten jungen Mannes mitten im Tanz, wundersam verankert auf einem Bein. Ich klammere mich an Heinrich von Kleist und sein Marionettentheater(1810/1811) in den „Berliner Abendblättern“ und denke an  die Grazie eines künstlichen Körpers, dessen Bewegungen derart aus einem geheimen Schwerpunkt heraus kommen, dass sie die Regungen in der Seele des Tänzers nachzeichnen. Wie dieser tanzende Hampelmann vor meinen Augen, der beide Hände hoch in die Luft gerissen hat und dennoch nicht von seinem Standbein kippt, weil er das Sprungbein steif und grotesk verlängert von sich abspreizt. Und während ich noch dem Strich dieser Zeichnung folge, mailt mir Gregory die folgende Anekdote: „ Ja, dieses Selbstproträt … eines Tages sah ich mir mit meinem Vater eine Fernsehsendung über geistig behinderte Menschen an. Auf dem Weg zur Kirche grüßten sie einen Priester und rissen ihre Arme enthusiastisch in die Luft. Ein Gruß, der mich sofort an unseren Vorfahren namens Adolf erinnerte. Als nun aber einer der psychisch Kranken in seinem Überschwang auch noch seinen anderen Arm hochriss, brach ich in haltloses Lachen aus. Und dann lachten wir beide über diesen gestischen Übermut, der all das übertraf, was mir bisher beim Nachdenken über Hitler durch den Kopf gegangen war. Jener arme Mensch hatte den Hitlergruß veralbert und entmachtet.  Und wollte doch nur den Priester grüßen, wenn nicht umarmen. Er hätte auch die ganze Welt umarmt, mit beiden weit ausgestreckten Armen. So wie ich, wenn ich auf dem Meer oder im Gebirge überwältigt bin. Es ist ein Gefühl, das wir alle kennen. Eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir unsere Gegenwart behaupten. Wenn wir die Welt wieder neu  entdeckt haben und sie nun  umarmen wollen … Ich habe diese Zeichnung gleich nach meinem Diplom in Paris gemacht ... »

      Wie nun, frage ich mich, während ich meinem transatlantischen Briefpartner lausche, wenn es in seinem malerischen Schaffen im Kern um nichts anders ginge: Um das Kunststück, bei der Umarmung der Welt nicht das Gleichgewicht zu verlieren? Um die Frage nach der individuellen Balance des Menschen in seiner Herausforderung Anfang des 21. Jahrhunderts? Dann würde, wie Louise Déry es in ihrem Beitrag zum Katalog der Ausstellung DIT IS DE MINJ formuliert hat, Gregory Forstner, anstatt in die Steilwand der Geschichte zu steigen, sich an die Gegenwart heran wagen und neue Wege gehen, andere Geschichten einleiten. Das kommt mir entgegen, meiner romantischen Neigung, in die eigenen Abgründe zu sehen.
(Erster Teil eines Versuchs zu Gregory Forsters Ausstellung The Ship of Fools im Sommer 2009 im Musée de Grenoble. Herausgeber des Katalogs: Musée de Grenoble und Galerie Zink München/Berlin. Gregory Forster ist 1975 in Douala, Kamerun geboren, lebt und arbeitet in Brooklyn, New York. Einzelausstellungen: 2009 Ship of Fools, Musée de Grenoble, Frankreich; 2008 The Waiting Rooms, Galery Zink, München, Deutschland; 2007 Easy Over, Galerie Contemporaine du MAMAC, Musée d'art moderne et d'art contemporain de Nice, Frankreich; 2006 Dit is de  minj, Galerie de l'UQAM, Universite du Quebec à Montréal, Canada; 2005 Piece unique, Centre culturel francais, Turin, Italien)  

jeudi 5 mai 2011

In eigner Sache

Wie ich vorgestern erfahren habe, ist mein Beitrag  "ARCONIE, eine Groteske" zum Wettbewerb um den Leonhard-Frank-Preis 2011 abgelehnt worden. Da ich nicht unbedingt Sieger werden wollte, mich als unerfahrener Autour für das Theater zunächst einmal nur angeregt fühlte, möchte ich meinen dramatischen Versuch nicht einfach in einer Schublade verschwinden lassen. Und würde nun erst recht gerne wissen, was ich falsch gemacht haben bzw. wo und wie ich etwas dazulernen könnte. So freue mich also jetzt schon auf scharfe, kritische Kommentare.

Bitte klicken Sie auf die Message ARCONIE !

Arconie

               

                         Arconie
                                                                   Eine Groteske
                                        Bühne
                                         Leer, bis auf drei Bohlen eines Schienenstrangs, einer  offenen Schere,
                                        die sich hinten in einem Blick auf die See schließt
                                        -
                                        Magda
                                         im kurzen, roten Kleid
                                        André
                                        im hellen Sommeranzug
                                        Der Chor
                                        drei Männer in bunt  gestreiften Kitteln
                                                                            
Alle
Kakophonisch
Noch in der Badewanne / Unter der Dusche / Vor der Haustür / Auf dem Weg zur Arbeit / An der Bushaltestelle / In der Mittagspause / Auf dem Weg nach Hause   
Lokomotive!
Kein Wort kam über die Zunge  
Sie hatten auf uns gewartet / Sie waren uniformiert / Sie trugen lange Mäntel / Pistolen in den Taschen / Schäferhunde / Handschellen
Sie hatten die Hüte tief in der Stirn, wir ihre Befehle in den Ohren  
Und die Angst unter der Haut
Sie mit Waffen in Händen, Mündungen, kleine böse schwarze Löcher   
Und wir immer noch ohne Worte/ Frauen weinten / Kinder verstummten
Offene Münder
Atem, Atem – wo bleibst du?
Lokomotive!
Erster Chorist
 Die Kollegen sahen zu, wie ich verhaftet wurde
Die Nachbarn vor den Türen 
Die  zuckenden Schultern des Chefs  
Zweiter Chorist
In unseren Augen die weiße Angst
Wir sagten kein Wort / Warum sagte ich kein Wort?
Meine Frau ließ mich nicht los / Meine Frau warf sich dazwischen / Mein Mann wurde zurück gestoßen / Gewehrkolben / Gewehrkolben
Auf der Ladefläche des Lasters: Eine Frau lief uns hinter her, fiel, stürzte auf das Pflaster unserer Straße
Dritter Chorist
Sie fuhren uns weg / Sie waren überall / Sie machten mit uns, was sie wollten / Und Witze wie diesen:
Kein Hahn wird nach euch krähen!
HAHAHAA!
Chor
Wir wussten nicht,  wie uns geschah
Plötzlich waren wir nicht mehr da
Lokomotive!
Choristen nach hinten weg, kommen  mit Klapptischen, Klappstühlen  und einem Sonnenschirm zurück, klappen das Strandcafé auf
 André setzt sich an einen Tisch, lässt eine Schiffsbuddel hin und her rollen
Flaschenpost! Fla/schen/post . . .
Magda
setzt sich an den Tisch nebenan
Wo haben Sie die denn gefunden?
André
Gefunden?
Gekauft, im Kiosk auf der Strandallee.
So was finden Sie heute nicht mehr.
Wirft ihr die Flasche zu
DA!
DIE CAP ARCONA!
Verflucht enger Hals, was?
Da musste alles durch:
Der Bug, die Aufbauten, die drei weiß-rote Schornsteine, die Reling mit den Rettungsbooten
Dahinter die Bullaugen!
Sehen Sie die Bullaugen?
Riskieren Sie ruhig einen Blick in die Luxuskabinen dieses ehemaligen Luxusliners
Des Flaggschiffs der Reichsdeutschen Seefahrt
Der Königin des Süd-Pazifik in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts: Hamburg/Rio de Janeiro und zurück!
Und alles maßstabsgerecht – nur  den Rauch und die Flammen, die brachte er da nicht rein
Magda
wirft die Flasche zurück:
Wer?
André
wirft ihr die Flasche wieder zu
Woher soll ich das wissen?
Der Schiffsbuddelbastler!
Hin und her der Flasche, dahinter der Chor, mit Pilotenkappen und  dicken schwarzen Brillen vor der Stirn:
Chor
Flugzeuglärm
Heute früh noch in den Spiegel gestarrt, Rasierschaum im Gesicht
Morgen, Übermorgen ist der Krieg aus, fliegen wir nach Haus
Zum Flugplatz / Propeller angeworfen /  Ins Cockpit, Steuerknüppel  . . .  
Brillen  vor die Augen!
TAGESBEFEHL, Sturzflug:
 Brandbomben auf Einheiten der Reichsdeutschen Flotte in der Lübecker Bucht /
Die Flucht der Reichsregierung nach Norwegen verhindern
Today some huns /
Will find it / quiet cold down there /
Deep, deep in the Baltic See    
Magda
Hunnen? Feinde?
Ja, Feinde der deutschen Feinde!
Verbündete warteten auf ihre Befreiung.
André
Sie wissen Bescheid?
Cap Arkona, untergegangen . . .
Magda
Falsch, nicht untergegangen!
Gekentert ist er, unser auf ein schwimmendes KZ-Lazarett herunter gekommener Luxusdampfer, gekentert nach der Bombardierung fünf Tage vor dem letzten Frieden.
Mit Kriegsgefangenen und  . . .
André
Häftlingen aus dem KZ Neuengamme an Bord!
Sie hatten schon alles hinter sich: Die Todeslager, Die Todesmärsche April/Mai 1945
Magda
Fünfundvierzig! Mein Jahrgang, und Ihrer?
André
Einundvierzig!
Und so sinnlos, der Angriff der englischen Jagdbomber am dritten Mai. Als hätten diese Häftlinge nicht schon genug durchgemacht. Und waren doch immer wieder davon gekommen.
Magda
Was geht Sie das an!
Sind sie deswegen hier, als Kurgast der Arkona?
André
Warum so zynisch?
Magda
Bringt meine Arbeit so mit sich, bin Fremdenführerin.
Heute ist mein freier Tag.
Your day off, wie meine Engländer gestern noch sagten . . . sie mögen mich.  Und ich führe sie unseren weißen Strand entlang, bis in die sanften Hügel der Holsteinischen Schweiz  . . .
André
Da könnten Sie ja, ich meine . . . Da könnten sie mich  vielleicht . . . ja auch mal  . . . nicht?  
Magda
Studieren hätte ich sollen, Geographie . . . oder Geschichte.
André
Habe ich:
 Geschichte des 20. Jahrhunderts!
Magda
Diese Vergangenheit, sie lässt mich einfach nicht los.
Warum denn?
Immer wieder lasse ich mich von ihr verführen, verfolge ich  Schicksale, Menschen  . . .
André
Die auf der Cap Arkona!
Magda
Die nicht mehr, die habe ich . . . in mir   
Aber Sie, was sind Sie denn? Von Beruf
André
Historiker! Und heiße André Herbst, wenn Sie gestatten
Magda
Angenehm, verstehe:
Menschheitsgeschichte, Kriege, Entwicklungen, Rückschläge,  Zeugnisse von Siegern und Besiegten, Archive . . .
André
Die der Royal Air Force werden erst im Jahr 2042 öffnen.
Wer weiß, was bis dahin alles geschehen sein wird.
Auch mit so einem Archiv.
Reißwolf, sage ich nur . . .
Magda
Gut möglich!
Aber, bis dahin:
Was machen wir mit dem Fall der Cap Arkona . . . . friendly fire?
Erklären Sie mir das mal!
André
Schrecklich!
Magda
Historiker erschrecken nicht!
André
Ich schon!
Ich erschrecke immer noch, vor diesem einen Tag zum Beispiel: Dem 14. April 1945!
Ein Tag wie jeder andere.
Magda
Na ja, Buchenwald befreit!
André
Nicht nur, nicht nur!
Auch Himmlers Befehl, am selben Tag:
Kein Häftling darf lebend in die Hände der Feinde fallen!
Chor
KEIN HÄFTLING DARF LEBEND IN DIE HÄNDE DER FEINDE FALLEN!
Und Befehl war Befehl / Himmlers Befehl war Führers Befehl.
Himmlers Männer vernichteten, was zu vernichten war: Erst Menschen, dann Gaskammern, Krematorien, Galgen, Namen, Nummern, Akten, Listen . . . bis kein Benzin mehr da war!  Was tun, wohin mit zigtausend noch nicht vernichteten Menschen im Lager Neuengamme? Ab auf die Cap Arkona, statt in die Scheunen. Aufs Wasser, statt ins Feuer! Raus auf hohe die See,  auf Nimmer Wiedersehen.
TORPEDOS!
Cap Arkona klar zur Versenkung?
Magda
Klar ist heute nur eines:
Diese Toten, die kommen nicht zurück
Aus ihrem Gefängnis!
André
Gefängnis?
Seit wann ist der Tod nur ein Gefängnis?
Das ginge ja noch!
Magda
Sag ich ja!
Diese Toten wenigstens, die warten auf ihre Befreiung, immer noch!
Dort, wo man sie verscharrt oder begraben hat, wie hier in unserem Dorf an der See, auf auf seinem Waldfriedhof
Ich besuche sie übrigens, rufe sie an, vertröste sie
-
Sie glauben mir wohl nicht, was?
Wollten Sie nicht gerade eben noch von mir, ich meine . . . ich  führe sie gern
Folgen Sie mir, Herr Herbst!
André
Mit dem größten Vergnügen!
Nur wem, wenn ich fragen darf.
Wem folge ich?
Magda
Magda!
Nennen Sie mich Magda.
Gehen wir!
Chor
Singt, während er ihr  um das Strandcafé herum folgt
Er geht ihr auf den Leim
Das lässt er lieber sein
Sonst geht’s ihm an den Kragen
Das woll‘n wir schon mal sagen                                                       
André
bleibt stehen
Nein!
Das gibt’s ja nicht, der alte Kurpark!
Ganz wie damals, der Teich, die Fische
Magda
Sie kennen sich hier aus?
André
Und wie!
Ich bin hier wie zu Haus!
Ich kenne dies Dorf wie meine Hosentasche. Den Teich,  wo wir als Kinder den Fischern zusahen: Wie sie den Teich trocken legten. Wie die Fische nach Luft schnappten! Und den Schlamm mit den Schwänzen peitschten! Und die rosigen Kiemen, wie sie flatterten. Bis die Fischer die Karpfen kurz hinter den Kiemen packten . . .
Und die Fische in hohem Bogen ans Ufer, in die Bottiche flogen
 Magda
Ich höre sie, wie sie durch die Luft fliegen. Und  gar nicht schreien . . .
Wie die Schweine frühmorgens im Winter, wenn man sie am Strick aus dem Koben zerrte und dann . . . das Messer, durch die Kehle . . .
André
Warum eigentlich, frage ich mich, sind  wir uns nicht schon früher mal über den Weg gelaufen . . . als Kinder!
Magda und André, zwei Königskinder in einem Dorf an der See . . .
Chor
singt
Was macht er mit dem Knie, dieser Hans
Was macht sie mit dem Knie, diese Gans
BEIM TANZ!
Magda
Schwimmen Sie gern?
André
Ich angele lieber!
Magda
So einer sind Sie!
Ziehen so ein Unschuldswürmchen auf den Haken, reißen ihn in den Hals des Fisches. Lassen ihm etwas Leine, mit seinem Messer im Mund. Bis dieser Mund nur noch Messer, Rasiermesser ist! Und damit in die Tiefe flieht.  Wo er Schutz sucht. Wo kein Schutz ist. Und dann reißen Sie ihn aus seinem Element, schleudern ihn in den Plastikeimer   . . . zu den anderen armen Schluckern.
André
Schwimmen tun sie also auch nicht?
Magda
Doch!
André
DA!
SEHEN SIE HIER!  
Hier ging ich zu Schule! Der rote Klinker, das Reetdach. Darunter lernte ich das Lesen und Schreiben – Rechnen nie! Und im Hof, da stand ich Schlange,  vor der Gulaschkanone – und  wurde abgespeist mit Erbsensuppe, Speckschwarten, mit schwarzen Borsten. Fettaugen im Blechnapf meines Vaters, dessen Krieg ich auslöffelte, den Vater aller Dinge
Choristen  
aus der See zurück, mit braunen Flügeln an den Oberarmen rocken, singen:
Maikäfer siegt! Die Väter sind im Krieg
Die Mütter sind im Polenland
Polenland ist abgebrannt
André
sein Unterarm, ein Scheibenwischer vor ihrem Gesicht:
ABC-Schütze André unter diesem Schuldach, im Zeichenunterricht, soll den Himmel über der Lübecker Bucht malen. Ja, und dann ein Schiff, ein schönes, stolzes Schiff. Da warf  der kleine Knirps, so aus dem Ellenbogen, seinen Himmel, in einem einzigen schwarzen Strich, auf das weiße Papier. Und kräuselte den aufsteigenden Rauch seines Dampfers darunter
Drückt  ihr den Zeigefinger in den Rücken!
Sehen Sie, Magda!
Spüren Sie den Rohrstock meines Lehrers in Ihrem  Rücken?
Stößt  zu, mit Paukerstimme: 
Himmel Herrgott:
Seit wann ist unsere Bucht denn eine Käseglocke, die zum Himmel stinkt?
Sie reißt sich los, er ihr hinter her nach hinten in die See,  die drei Choristen ihnen entgegen, Ferngläser vor den Augen:
Chor
Wir stehen am Ufer, das Schiff liegt im Feuer auf der See / Menschen schreien, meilenweit  / Wir stehen und schweigen /  Mit uns die schwarzen Uniformen, die Totenköpfe: Himmler befahl, sie folgen!
Chor
dreht sich im Kreis
Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen!   
KEIN HÄFTLING DARF LEBEND IN DIE HÄNDE DER FEINDE FALLEN!
TORPEDOS:
KLAR ZUM GEFECHT?
Erster Chorist
mit Totenkopfmütze auf dem Kopf
Und warum?
Setzt seine Mütze dem
Zweiten Choristen
auf den Kopf
Keine Arkona, keine KZ-Häftlinge,  keine KZ-Zeugen
Keine Endlösung!
Setzt die Mütze dem
Dritten Choristen
auf den Kopf
Torpedo klar zum Gefecht:
Keine Ratte verlässt lebend das Schiff  
Keine Ratte, kein Zeugnis
Nur noch Zukunft, Zukunft
Zeugenlose Zukunft
Chor
summt
FRIEDEN ‚ Frieden – wird es nun bald!
Magda, Zigarette im Mundwinkel, verscheucht die Choristen,  faltet Andrés Hände vor ihrem Bauch und fragt ihn, über die Schulter:
Magda
PÜPPI?
Willst du die Englein im Himmel singen hören?
André
Fragst du mich?
Magda
Nein, der Maurergeselle Alfried, der fragte mich, die Nachkriegsgöre. Die auf Geheiß des feschen Kerls ihr Näschen in seinen Rücken drückt und ihre Händchen faltet vor seinem Bauch. Und ich jetzt, die ich die Engelein  im Himmel singen hören sollte, die noch sagte:
‚Gibt’s ja, geht ja gar nicht!‘
André
Recht hast du gehabt!
Magda
So dachte sie auch, die kleine Nachkriegskröte!
Aber dann hörte ich sie . . . wirklich!
Wie sie sangen, Alfrieds Engelein.
Hörte sie so wie du jetzt, gleich:
Schließ mir beide Äug‘lein ZU!  
Magdas Kippe zischt auf Andrés Handrücken, beider Aufschrei!
Beide nach hinten weg, ihnen entgegen die drei Choristen, klappen das Mobiliar des Strandcafés zusammen, werfen es  auf einen Haufen zwischen die Bohlen
Magda kommt  auf Stöckelschuhen und mit  hell aufblinkenden, unten scharf zugespitzten Metallkreuzen in den Armen zurück und spickt den Boden mit ihnen.
Die Kreuze zittern nach:
Magda
DU, du hast im Steinbruch geschuftet
DU, in der Munitionsfabrik
DU, du hast im Bunker, in der Krankenbaracke gelegen
DU kamst an der Gaskammer vorbei
Und DU  und DU und Du  . . .
IHR HABT DEN TOD GELEBT!
Stößt mehrere Kreuze zugleich an, singt und tanzt dazwischen:
Frieden, Frieden ist es nun bald
Lasset uns tanzen, lasset uns singen!  
Reißt ein Kreuz aus dem Boden, nimmt es in die Arme, wiegt, küsst es!
Nichts war vorbei, am Dritten Mai!
Schmeißt das Kreuz  auf den Boden! 
Leben vorbei, am Nachmittag des Dritten Mai
Trampelt drauf herum . . .
ANDRÉ!
Höre, André:
Höre das stille Efeu, das Welken der Blumen, das Vergilben der Kränze, das Rascheln der Schleifen . . . im Sternenwind  
André
Totentand!
Nichts als Totentand!
Aber Wir, wir beide Magda, du und ich
Leben wir denn nicht?
Ferne Detonationen!
Was ist das?
Da liegt was in der Luft?
Sie
 packt ihn, Einschläge kommen näher:    
Hörst du die von Bomben Zerrissenen, im Rauch Erstickten, im Feuer Verkohlten, im Wasser Verschwundenen?
Hörst du sie, nein?
-
Dann höre dies hier, André:
Höre die verhallten Trauerreden, verhallt auch die englischen Salutschüsse zu Ehren der Opfer . . . auf dem Bauch der gekenterten, auf die Seite gekippten Arkona.
Alles verhallt, André!
Verhallt auch das Nie Wieder:  
NIEDER MIT DEM NIEWIEDER !
Nimmt  sein Gesicht in ihre Hände
LEBEN, LIEBEN . . . ja wir, wir sind noch mal davon gekommen, aber wie lange noch . . . in diesen Tagen, in denen der Tod sich mit dem  Zufall  verlobt!
André
Zufall, ja!
Mehr nicht, mehr war das letztlich nicht, das mit der Cap Arkona.
Ein blöder Zufall!
Magda
Blöd?
Blöde Zufalle gibt es nicht. Zufälle sind intelligente Mächte, schlaue Bastarde, finstere Dämonen im Zwielicht von Theorie und Technik.
Chor
schwenkt eine Rotkreuzfahne
IM ZUFALL FÄLLT DIE ZEIT!
Erster Chorist
Ja, ich weiß Bescheid:
Ich weiß von den Häftlingen an Bord der Cap Arkona, im Fadenkreuz der Royal Air Force.
Zweiter Chorist
legt seinen Arm auf die Schulter des ersten:
Wir sind jene beiden Offiziere des schwedischen Roten Kreuzes, die mit ihrer Meldung  für die Royal Air Force zu spät kommen:
ACHTUNG, ACHTUNG, EINE FALSCHMELDUNG:
Auf den Schiffen in der Lübecker Bucht befindet sich keineswegs die  faschistische Führung auf der Flucht nach Norwegen!
Erster Chorist
Auf den Schiffen in der Lübecker Bucht warten KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene auf ihre Befreiung! Auf Euch, die Piloten der Freiheit!
DREHT AB!
KEHRT UM!
FLIEGT EURE BRANDBOMBEN NACH HAUSE!
Dritter Chorist
Die Meldung meiner Kollegen kam leider zu spät, blieb unglücklicher Weise irgendwo im Netz der Nachrichten der Engländer hängen. Jemand hat sie verschlampt. Irgendein Schlendrian hatte seine Hand im Spiel
Sie
ihren Arm um Andrés Hals gelegt, zeigt, starrt vor sich auf den Boden:
Hier, LIES!
Lies den Gedenkstein!
Er
von Magda in die Knie gezwungen
HIER /HABEN / DIE OPFER DER CAP ARKONA / IHRE LETZTE RUHE / GEFUNDEN!
Die  Choristen
stürmen mit KZ-Käppis  in den Kreuzwald, reißen sich einzelne  Kreuze  raus und schlagen damit auf André ein:
RUHE?
RUHE? RUHE? RUHE?
NIEMALS!
NIEMALS RUHE!
HIER UND HIER UND HIER DA HAST DU DEINE RUHE!
Magda  wirft sich dazwischen, treibt sie unter das Strandcafégerümpel:
Sie haben ja Recht!
Als ob ich’s nicht gewusst  hätte.
Alleine hätte ich kommen müssen, ohne dich
Aber dann liefst du mir vorhin über den Weg und ich vergaß, dass ich alleine zu ihnen kommen muss.
Geh schon, André!
GEH!
Nach einer Weile, formt sie ihre Hände zu einer Flüstertüte
Ich weiß ja, Ihr seid alle da.
Seid hier irgendwo, um mich herum.
So kommt doch, kommt doch her zu mir.
Sprecht mit mir. . .
Oh, Ihr meine Tauben, meine Täubchen, meine Brieftäubchen
Singt, einen ihrer Stöckelschuhe in ausgestreckter Hand
Kommt ein Vogel geflogen
Lässt sich nieder auf mein‘ Schuh!
André
abseits
Deutschen Raubvögeln zum Fraß
Hängen geblieben in britischen Krallen
Katastrophaler Kollateralschaden, tödlicher Zufall, tragisches Unglück . . .
Magda
Das sagst Du so! Das sagen sie alle so. Und geben sich zufrieden damit.
Ich nicht!
Ich spreche mit ihnen, tröste sie.
Sie hören mich.
Mich, Magda Gajewski!
Lässt den Schuh fallen, zieht ihr Kleid hoch, bis übers  Gesicht:
SEHT HER!
IHR KENNT MICH
ICH BIN, WIE IHR WART
NACKT UND ROSIG POCHT MIR DAS BLUT UNTER DER HAUT
UND WERDE DOCH, WAS IHR SEID
Schwankt,  zieht sich das Kleid runter, sieht sich um, sucht André, humpelt ihm in die Arme:
Du bist schuld!
Sie antworten nicht, weil du da bist.
Sie trauen dir nicht über den Weg
Für dich sind sie tot, bleiben sie tot
Lacht irre
Tot ist tot ist tot ist tot
Da lachen ja die Hühner!
Zieht sich auch den anderen Schuh aus und hakt sich bei André unter
Freiheit für Alle!
Freiheit für die Toten der Cap Arkona!
Beide nach hinten in die See, während die drei Choristen wieder  unter dem Strandcafégerümpel hervorkriechen und sich gegenseitig die Kittel abklopfen
Erster Chorist
Die hat was gegen uns!
Zweiter Chorist
Eine Meise hat sie.
Nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Dritter Chorist:
Der Tod nur ein Gefängnis?
Das Leben nur ein Gefängnisurlaub?
Urlaub, Urlaub wird es nun bald?
Chor:
Da halten wir uns raus
Da mischen wir nicht mit
Wir heißen doch nicht Schmitt
Zeigen sich gegenseitig den Vogel, Magda mit André  Arm in Arm schlendern an dem Strandcafégerümpel mit  seinen Chronisten vorbei, um den Kreuzwald herum
Magda
Eigentlich bin ich ganz froh. Dass sie mir nie antworten. Was wäre, wenn sie frei kämen? Was täten sie, mit uns.
André
Mit dir!
Magda
Chaos, sage ich dir.
Chaos auf dem Waldfriedhof!
Die Chronisten schleichen um sie herum
Stell dir vor, es verwandelte sich auch nur ein einziges Kreuz in einen KZ-Häftling der Cap Arkona und käme auf uns zu . . .  in Sträflingskleidung, mit schlotternden Knochen. Und stünde vor uns . . .  
André
Vor dir!
Magda
Der wirft mich glatt ins Wasser, ins Feuer . . .
André
Rache ist süß!
Rache ist Blutwurst, sagten wir Kinder.
Magda
Nachkriegskinder, ja, die wissen mehr als wir. 
Erster Chorist:
BEFEHL IST BEFEHL IST BEFEHL!
Zweiter Chorist
auf dem Gerümpel
KEIN HÄFTLING FÄLLT DEN FEINDEN LEBEND IN DIE HÄNDE!
Dritter Chorist
Töten, verbrennen, versenken werden wir sie
Unsere Feinde, die Fremden, das ganze Gesocks ein Klumpen aus Blut und Blei!
Alle Drei
auf dem Gerümpel
Da sind sie dann frei!
FREIER ALS FREI!
Dritter Chorist
Keiner kommt hier lebend raus!  
Zweiter Chorist
So lachten wir sie aus.
Erster Chorist
Was für ein Witz!
Was für ein guter Witz!
Alle drei reißen sich ihre Perücken und Masken  von den Glatzen!
Heute schlagen wir Euch tot
Morgen kräht kein Hahn nach Eurer Not
Sie verschwinden mit Gelächter, Magda klammert sich an André:
Magda
MEINE MUTTER !
MEINE MUTTER SCHRIE IM SCHLAF!
André
beide Hände vor den Ohren:
Warum schreist du so?
Magda
Weil du mich nicht verstehst!
André
schreit
Wer, wenn nicht ich?
Magda
Niemand, außer den Toten in ihrem Gefängnis!
Chronisten kommen zurück, fluchen, ziehen einen Holzkarren auf zwei knarrenden Rädern aus der See bis an den Kreuzwald, treten die Kreuze nieder, reißen sie raus, werfen sie auf den Karren  
Erster Chronist
Kreuze im Arm:
 Wohin mit solchen Strolchen?
Schleudert die  Kreuze auf den Karren
Zweiter Chronist
mit zwei Kreuzen im Florett:
Die Engländer auf dem Vormarsch / die Deutschen auf dem Rückzug
Die SS auf der Flucht
Panik, Panik, heillose Panik im ganzen deutschen Land
Wirft beide Kreuze in hohem Bogen auf den Karren
Dritter Chronist  
mit Kreuzen oben  auf dem Karren, die er erst fallen lässt, dann wieder an sich nimmt, beschützend
 Wir frieren im Hafen und sehen übers Wasser
Wir sehen ein großes Schiff auf der Reede  
WIR SEHEN UNSER SCHIFF!
Wir kommen an Bord, wir sterben an Bord
Und werden täglich über Bord geworfen
Plötzlich anschwellender Flugzeuglärm, alle Drei verkriechen sich unter dem Karren
Chor:
Erkundungsflug der R A F !
Sie schieben den Karren geduckt zum Haufen des Gerümpels,  kippen die Kreuze dazu verkriechen sich . . . Magda und André, vor den verkohlten Rumpf  eines Ruderboots gespannt
Magda
Im Windschatten der großen, geschehen die kleinen Verbrechen!
Schießerei  im Hintergrund!
Magda fällt in den Ruderbootrumpf zurück, reißt André mit,  beider Arme und Beine ragen noch  über die  Bordwand hinaus
Am Morgen des 3. Mai 1945 lebe ich schon länger im Bauch meiner Mutter / Treiben wir mit Hunderten von halb erfrorenen Häftlingen in zwei offenen Lastkähnen im Frühnebel an der Arkona vorbei /Notsegel aus Stangen, Decken und Mänteln / Rudern wir mit Brettern, bloßen Händen . . . schwimmt Mutter die letzten Meter und watet mit mir an Land
Schießerei kommt näher
Das sind sie, schießwütige Schinder, Volkssturm . . .  jagen uns zurück ins Wasser  . . . Wer nicht ertrinkt, wird erschossen . . .  Wer noch nicht erschossen
Chor:
STILLGESTANDEN!
ANGETRETEN ZUR KOLONNE!
Magda
Still  stand meine Mutter mit mir
Durch das Kaisergehölz marschierten wir  
Und blieben nicht liegen  am Rand einer Straße, im Graben einer Chaussee
Wo wir weder erschossen, noch erschlagen oder per Genickschuss erledigt wurden
kriecht aus dem Ruderbootrumpf
Einhundert-siebzig-Leichen-zählten-die-Engländer-am-Morgen des 4. Mai: Am Strand-und-im-Kaisergehölz / zehn-im-Kurpark am Teich / drei-auf-dem-Schulhof /  im Kaisergehölz  . . .
Zieht André aus dem Bootsrumpf, streicht sich das Kleid glatt:
Gehen wir, Herr Herbst!
André
Na endlich!
Aber wohin?
Magda
Ins Hotel, wohin sonst?
André
Zimmer mit Seeblick?
Magda
Natürlich!
Besinnt sich, dreht sich um, befiehlt den drei Choristen:
AN DIE ARBEIT JUNGS!
Jetzt machen wir erst mal klar Schiff.
Alle Fünf räumen die Bühne leer, werfen das Gerümpel nach hinten, verschwinden  in der  See . . . ein zugezogenes Himmelbett rollt auf  einer der beiden Schienenstränge(?) heran, steht still, fängt zu schaukeln an, es wehen die Vorhänge, es quietschen die Sprungfedern . . .  bis Ruhe einkehrt und Magda hinter dem Himmelbett hervor kommt: nackt bis auf das rote Mini vor Scham und Brüsten, reißt sie den Vorhang des Himmelbetts  vorne auf
Du weißt wohl nicht mehr, wie ‘s jetzt weitergeht, was?
André
Ich wüsste schon!
Wo warst du denn so lange?
Magda
Im Badezimmer, wo sonst.
André
Na dann guck mal raus aufs Wasser.
Magda
Was gibt’s da groß zu sehen?
André
Nun mach schon, sieh endlich aus dem Fenster!
Magda
Tu ich doch!
Und?
André
Wetter wie damals, im Mai.
Die Wolken hingen tief, am frühen Nachmittag, fünf Tage vor dem Frieden:
Vierzehn Uhr dreißig!
NUN MACH SCHON, MAGDA!
Weißt doch so gut Bescheid!
FLIEG, MEIN MAIKÄFERCHEN, FLIEG!
Magda reißt ihr Mini von oben bis unten auf, hat zwei rote Fetzen in  Händen, breitet  ihre Arme aus und flattert los, fliegt, ein Engel mit roten Engelsflügeln, um das Himmelbett herum
Chor
steigt hinten aus der See
Britische Jagdbomber im Anflug über der Lübecker Bucht / Schiffe in Flammen / ein Schiff geht unter, mit zweitausend fünfhundert Menschen an Bord / die englischen Piloten verschießen den Rest ihrer Brandbomben, bis auf die Sicherheitsreserve /
sie kreisen über der Bucht /
sie gehen in den Tiefflug /
sie zielen mit Bordwaffen auf die aus dem Schiffsbauch der Arkona heraus stürzenden Menschen
Erster Chorist
Wo sind die Rettungsboote?
Die Feuerwehrschläuche?
Schwimmwesten?
Zweiter Chorist
Schwimmwesten weggeschlossen!
Feuerwehrschläuche durchgeschnitten!
Rettungsboote leck geschlagen!
Dritter Chorist
 Die SS hat an alles gedacht
Die SS hat vorgesorgt:
Himmlers Befehl ausgeführt!
Und der RAF die Arbeit abgenommen!
Magda, läuft und fliegt
Chor
Die großen, luxuriösen Festsäle:
Brandgassen für die Brandbomben
Die Niedergänge, Treppen und Zwischendecks:
Schornsteine, nichts als Schornsteine
Erster Chorist
Ich stürze über Bord / Ich stürze zwischen im Wasser treibende Planken und Köpfe von Menschen / Ich kämpfe mit einem Menschen um den Rettungsring  
Wir kämpfen wie die Tiere / Wir gehen unter mit dem Rettungsring   
Ich komme  wieder hoch
Zweiter Chorist:
Ich kann nicht schwimmen / Ich klammere mich an den Nächsten / Der Nächste ist ein toter Mann, ein SS-Mann in seiner Schwimmweste  
Sie trägt uns beide
Magda, läuft und schwimmt
Dritter Chorist
Wir kentern mit der Cap Arkona, kippen auf die Seite / Hocken auf ihrem Bauch / Halb noch auf dem glühenden Eisen der Bordwand, halb schon im eiskalten Wasser der Ostsee
Der Chor
Jagdbomber im Sturzflug, im Tiefflug, fegen über die Lübecker Bucht / Bordkanonen zielen auf Köpfe im Wasser /  keine Köpfe mehr da  
Mienensuchboote, Küstenwachboote und ein U-Boot  fliehen aus der Bucht
Magda rettet sich ins Himmelbett, André zieht den Vorhang zu.
STILLE,  Sprungfedern
André
Komm, Magda, komm
Magda
Das hatten wir doch schon!
Erzähl mir lieber was, was Lustiges. 
André springt aus dem Himmelbett, grüßt militärisch, in Unterhose
André
Ich heiße André Klostermann und war der Star der französischen Luftwaffe im Weltkrieg Nummer Eins
Und wurde am 14. Mai 1927 zum Stapellauf der Cap Arkona nach Hamburg eingeladen
Wo wir die Geburt der  Cap Arkona, der Königin des Süd-Pazifik feierten
Wozu wir Uniformen, Smoking oder lange Kleider trugen
Und die Cap Arkona mit der Veuve Cliquot tauften
LANG LEBE DIE DEUTSCHE QUEEN MARY!
André, Heil Hitler grüßender Hampelmann!
Und im Weltkrieg Nummer Zwei, da war ich auch dabei
Da fegte ich einen britischen Jagdbomber über die Lübecker Bucht
Und klinkte meine Brandbomben über der Cap Arkona aus
Magda
Taufpate killt Täufling?
Lachst ja gar nicht!
Nun lach schon!
Dann eben nicht, aber hör mir mal zu:
Springt auf, steht stramm auf den Sprungfedern, HH-Gruß,  mit den roten Fetzen in Händen
Gestatten?
Letzter Kapitän der Reichsdeutschen Cap Arkona!
Verantwortlich für mindestens 4 Tausend Häftlinge.
Singt
Wir hatten die Häftlinge, den Hunger, den Durst und den täglichen Tod an Bord.
Und mehr noch, immer mehr noch sollten an Bord:
Russen, Franzosen, Holländer, Polen
Männer, Frauen, Kinder aus aller deutschen Herren Länder
Nur über meine Leiche, sagte ich
Das verantworte ich nicht!
Da entsicherten die schwarzen Uniformen ihre Karabiner
Da wich ich der rohen Gewalt
Da  bebte mein Schiff  bis in den Rumpf / Erster Volltreffer / Zweiter Volltreffer
Da brach mein Schiff in Flammen aus, kämpften die Häftlingsmassen auf Leben und Tod, hatte ich meine Machete schon in der Hand, holte ich aus und
Schlug zu, schlug um mich
Schlachtete mir meinen Weg frei
WEG DA ! AUS DEM WEG DA !
WEG FREI! WEG FREI!
-
André
Verstehe!
Magda
Sieht dir ähnlich, was?
Er knallt ihre eine auf den Nackten!
Bist du verrückt geworden?
 Handgemenge im Himmelbett
Chor
sieht ganz aus der Nähe zu
LEBEN LEBEN LEBEN WOLLEN WIR
NUR STERBEN STERBEN STERBEN  NEIN DAS WOLL’N WIR NICHT
NUR RAUS DA RAUS DA AUS DER DER HÖLLE DA
TIEF UNTEN AUS DEM BAUCH DER ARKONA
Erster Chorist
Und klammern und klettern zu Hunderten auf zwei handbreiten Eisenleitern
Und zertreten uns die Hände auf eisernen Sprossen
Und stürzen zurück und reißen Andere mit
Magda, hat die Oberhand, kämpft weiter mit André
Zweiter Chorist
Siehe da, ein Mensch, ein halb schon verwüsteter Mensch, wie er es schafft und hoch aufs schräge Deck kriecht, wo er hin fällt, ausrutscht, in einen Haufen brennender, verknäulter an der Reling schreiender, verbrennender Menschen rutscht
Magda
Mein Rücken, mein Rücken, mein Rücken brennt
 strampelt sich frei,  trampelt auf André rum, fuchtelt mit den Armen in der Luft, greift nach der  Firststange des Himmelbetts über sich
Hoch hier! HOCH!  Und HOCH! UND
Hangelt an der  Himmelbettstange
Chor
Seht nur, seht!
Den Menschenwurm, wie er sich windet in seiner Lebensangst
Hangelt sich weiter  
Chor:  
SEHT den Wicht. Wie er weiter und weiter . . .
HÖRT, wie sie schreien und brennen, die lebenden Fackeln.
RIECHT das schreiende Menschenfleisch, wie es über die brennenden Köpfe kriecht . . . und sich rettet  . . . und sich rettet
Magda lässt die Firststange los, fällt neben das Himmelbett, bleibt liegen, André kriecht zu ihr, tröstet sie, zieht ein Feuerzeug aus seinem Slip, sucht nach Zigaretten, zündet einen Vorhang an . . . das Himmelbett fängt Feuer, rollt lodernd ab nach hinten in die See . . .
 (wo sich die Choristen seiner annehmen, mit Feuerlöschern!)
Beide hocken halbnackt auf der leeren Bühne, zwischen den Bohlen
André
So!
Das hätten wir hinter uns!
Magda
Du vielleicht, ich nicht.
Als Fremdenführerin habe ich es heute noch mit Kurgästen zu tun, die sich über gewisse schwarze Flecken beschweren.
Letzte Spuren der Klumpatsche!
André
Der was?
Magda
Klumpatsch, ortsüblicher Ausdruck für jenes Amalgam aus  Arkonaleichen und Sand und Salz und
André
Verstehe, endlich.
Magda
Was, was verstehst du, endlich?
André
Den flüchtigen Ekel  in den Gesichtern meiner Eltern, in den ersten Jahren nach dem Krieg. Wenn wir Aal aßen.  
Freitags Fisch!
Diese Aale gleich nach dem Krieg, wie billig und fett sie waren.
Die Fischer machten Witze.
Magda
Hast du auch, Aal gegessen?
André
Kopflos, in Portionen geschnitten, in Mehl gelegt und gewendet, sprangen die Viecher  immer noch aus der Pfanne.
Magda
Hast du nun Aal gegessen oder nicht?
André
Wer hat das nicht?
Haben wir doch schon mal.
Du doch auch!
Magda
schlägt nach ihm
Natürlich, habe ich  Aal gegessen.
Aber ich weiß heute wenigstens, was ich gegessen habe.
André
Was denn?
Magda
NAHRUNGSKETTE, sage ich nur.
Die Aale fressen die Häftlinge, wir fraßen die Aale  . . .
André
 Magda!
Magda
Placenta! Placenta!
André
Schon gut, Magda!
Aber wo wir nun bei dieser Nahrungsketten sind, vergessen wir doch, bitteschön, die Henker nicht
Die Aale werden ich doch nicht nur an Opfer gehalten haben   
Aale fressen alles!
Ganz wie die Schweine, die Hühner und . . .
Magda
Wir, die Menschen!
Aber wir, wir wissen doch wenigstens, was wir essen
André
Das ist der feine Unterschied!
Singt
Püppchen, du bist mein Augenstern
Püppchen, ich hab dich zum Fressen gern.
-
Und jetzt, wohin jetzt?
Zu dir?
Magda
Nein, in die Ostsee.
Schwimmen!
André
Ach, lieber nicht!
Magda
Warum denn?
André
Weil ich hier weg will, wir reißen ab.
Zum Bahnhof!
Magda
Auch gut!
Los, hauen wir ab hier!
 Stolpert über eine Bohle, stürzt hin, blutet, ruft:
UNSER ZUG UNSER ZUG
WO IST UNSER ZUG?
Flüstertüte
BAHNHOFSVORSTEHER!
Wo ist der Bahnhofsvorsteher?
CHEF!
Wo ist deine Trillerpfeife?
Und deine rote Mütze, Chef!
Und deine schöne Kelle mit dem Licht, dem roten und dem grünen Licht?
ABFAHRT, André!
ABFAHRT!
Sitzt halb aufgerichtet wie ein Meermädchen, streift sich die Stöckelschuhe von den Hacken und hämmert damit auf die Schiene:
PING PINNNG PING PINNNG
PING PING PING PING PING :
Singt/schreit:
Nach HAUSE! NACH HAUSE
WOLLEN WIR!
RAUS HIER, NUR RAUS HIER 
WOLLEN WIR
Stakatto-Ping-Ping auf den Schienen, mit den Hacken  beider Schuhe nun auch auf die Bohlen
 POUNG POUNG POUNG
Wo sind sie, die Waggons für das VIEH?
Für das VIEH, das wir sind  für SIE!
Hämmert auf das Eisen der Schienen, auf das Holz der Bohlen
Wir nahmen den Bahnhof  im Sturm
Wir suchten die Freiheit  und fanden die Gitter  . . .
Springt von Bohle zu Bohle, balanciert auf den Schienen
SCHIENEN FREI!
SCHIENEN FREI!
Leiser
FAHREN! FAHREN!
Noch leiser
IN DIE FREIHEIT FAHREN . . .
André
Wohin? Wohin?
Magda
Wohin du willst!
Nur ins Freie, ins Freie
                                                                _ _ _