dimanche 11 décembre 2011

Diskurs der Redlichkeit

Neuerscheinung: Josef Quack über Döblins Hamlet-Roman

In Wolfgang Koeppen, Erzähler der Zeit(1997) führte der Autor den Nachweis, dass Koeppen in seinen drei Nachkriegsromanen drei Zeitarten berücksichtigte: die historische, die subjektiv erlebte und die narrative Zeit. Insgesamt kam die Erfahrung einer Beschleunigung der Zeit zu einem Ausdruck, der in der jüngeren deutschen Literatur einmalig ist. „In immer neuen Einsätzen hat Koeppen über die Differenzen der Zeitvorstellungen reflektiert und die wesentlichen Zeitmodi abgewandelt. Ein Dichter der Zeit in der unverkürzten Bedeutung des Wortes, hat er die Spannung zwischen öffentlicher und subjektiver Zeit in ihren markantesten Ausprägungen unnachahmlich festgehalten. Er übt die schärfste politische Kritik, ohne die existentielle Zeiterfahrung seiner Figuren zu unterschlagen.“(Quack 324)

In Geschichtsroman und Geschichtskritik. Zu Alfred Döblins ‚Wallenstein‘(2004) thematisierte der Autor den in diesem Roman vorherrschenden Gegensatz von Geschichte und Natur, wobei Wallenstein die historische und Kaiser Ferdinand II. die geschichtsabgewandte, natürliche Zeit repräsentiert. Wie schon im Koeppen-Buch, analysierte er in genauen Beschreibungen die filmische Montage und kam zu dem Ergebnis, dass Koeppen Döblins Montageverfahren in ‚Wallenstein‘ übernommen habe. Diese geistige Wahlverwandtschaft wurde vorher in der Forschung nicht erkannt. Um nun den Rang des Wallenstein zu bestimmen, wagte er den Vergleich mit Tolstois Krieg und Frieden und Flauberts Salambo. Josef Quack legt strengste Maßstäbe an.

Döblins Hamlet-Roman, eigentlich eine groß angelegte Rahmenerzählung, ist deshalb eine moralische und politische Provokation, weil in ihr weniger nach den gesellschaftlichen als nach den menschlich privaten Ursachen des Krieges geforscht wird. Wobei es nicht nur um den zweiten Weltkrieg geht und somit relativ verständlich wird, dass kein Wort über Auschwitz fällt. Edward, einem jungen Engländer wurde im Krieg ein Bein abgerissen. Er kommt mit einem Kriegstrauma zurück in sein Elternhaus, wo der Krieg weitergeht. Der Vater, ein bekannter Schriftsteller, will ihn zerstreuen und ablenken von seinem hartnäckigen Fragen nach der Kriegsschuld auch in der Familie und im Freundeskreis. Statt zu diskutieren, soll erzählt werden. Aber die abendliche Erzählrunde vor loderndem Kaminfeuer wird zu einer sich allmählich ausweitenden Kampfzone. Die Konflikte spitzten sich dramatisch zu und beinahe kommt es zu Mord und Totschlag zwischen Eltern und Sohn.

Im ersten Kapitel untersucht der Autor Döblins Erzählkunst. Textnah und jede Behauptung mit Zitaten belegend, beschreibt er die verschiedenen Formen der Montage, legt er das Netz der Metaphern aus und führt uns ein in die Grammatik der Bilder. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den intertextuellen Beziehungen. Neben Hamlet ist Kierkegaard die zweite maßgebliche Gestalt: sein „rigoros geforderte(s) und unerbittlich angestrebte(s) Postulat der Redlichkeit.“(D 67) In Edwards kurzem Vortrag über Kierkegaard heißt es: „Kierkegaard hat seine besondere Art der Ehrlichkeit, die nicht besänftigt werden kann, die keine Antwort beruhigt, die aber auch nicht haltmacht in der Ergebenheit, im Verzicht auf Antwort, sondern wie getrieben weiterdringt, obwohl sie gewiss ist, zu keinem Resultat zu kommen. Wie Kierkegaard von Frage zu Frage springt, von einer auf die andere herunterspringt, an jedem Resultat rüttelt und nie gewiss wird, wie er weiterspringt, und nichts zustande bringt und nichts weiß – das hat etwas von einer Angst, von einem Schwindel, von einem Sturz ins Bodenlose an sich.“(Hamlet, dtv 200, S. 173)

Im zweiten Kapitel geht es um den Sinngehalt des Romans. Quack vertritt einen kritischen Rationalismus, bleibt sich aber der Grenzen bewusst, das heißt er schließt bei aller kritischen und selbstkritischen Skepsis die Anerkennung der metaphysischen Dimension des Weltbildes nicht aus. Er kommentiert Döblins Suche nach dem Grund der Angst, der Schuld und Wahrheit über sich selbst. Etwas Dunkles, wie im Hause Hamlets, muss aufgeklärt, die Scheinhaftigkeit des Lebens der einzelnen Personen aufgedeckt werden. Was ist das Gegenteil von Redlichkeit? „Der Abgrund der Feigheit und Verlogenheit.“ Alles Fragen nach der Wahrheit über sich und andere endet in der Frage: Was für ein Mensch will ich sein? Aber das Menschsein ist ja spätestens seit dem zweiten Weltkrieg selber stark in Frage gestellt.

Im dritten Kapitel untersucht Quack den Hamlet-Roman im Werk Alfred Döblins. Sein Vortrag Unsere Sorge der Mensch(1948) ist die theoretische ausgearbeitete Antwort auf die Frage Edwards nach dem Menschen. Die Ursachen für die Kriegskatastrophe sind im Menschen selbst zu suchen: „Der Mensch ist als freies, bewusstes und tätiges Wesen geschaffen. Als solches hat er den Zustand der Welt und ihren finsteren Charakter herbeigeführt.“(US 45, Quack 204) Ein längerer Blick auf die labyrinthisch verschlungenen, eng verflochtenen Erzählungen zeigt aber das ganze Gegenteil: Wir sind eben nicht als freie und bewusste Wesen geboren, wir werden es vielleicht. Wir sind von Phantasien, Sitten, Moden und allerhand Unterirdischem gesteuert. So heißt es über die Gäste des Hauses: „Es sangen Vögel. Stiere brüllten. Tiergeschlechter lebten, Quallen, Pflanzen, Korallenverbände. Da lebten alte Erdperioden und Katastrophen, die Sintflut, der Paradiesgarten. In Lackschuhen, in Seidenstrümpfen schritten die Damen, die Herren – Dinosaurier.“(H399) So stellt sich die Frage, ob die lange Nacht des Menschwerdens je ein Ende finden wird. Wie denn?

Im vierten und letzten Kapitel, analysiert Quack den Hamlet-Roman zunächst im Kontext des Nachkriegs und erinnert an die folgenreichste literaturtheoretische Schrift in der Jahrhundertmitte, an Jean Paul Sartres Was ist Literatur?(1948; dt. 1950) Sartre endete mit dem Plädoyer für eine unbedingte, radikale Freiheit. Döblin ist dieser Gedanke nicht fremd: Fällt sie weg, so kann von Kunst oder Literatur nicht mehr die Rede sein. Für Döblin war das Jahr 1933 und für Sartre das Jahr 1940 das kritische Datum für eine Literaturbetrachtung. Interessant scheint mir Quacks Hinweis auf Döblins Bestimmung der NS-Ideologie, deren Kern er als biologische Utopie begreift, die das Ideal des Übermenschen verwirklichen wollte, aber zur Ideologie des arischen Herrenmenschen verkommen ist. „Nach Döblins Meinung ist die enthusiastische Aufbruchsstimmung, die die Nazis anfangs entfachen konnten, nicht nur inszeniert, sondern nur aus dem pseudoreligiösen Charakter des Nazismus als einer Utopie zu erklären. … Auch ist inzwischen längst erwiesen, dass die nationalsozialistische Ideologie, ebenso wie der Marxismus, für ihre Anhänger eine religionsähnliche Funktion hatte.“(D 226)

Im zweiten Abschnitt des letzten Kapitels geht es um die Bestimmung des Hamlet-Romans als christliche Dichtung im Vergleich mit dem Journal d’un curé de campagne(1936) von Georges Bernanos. Es handelt sich um jene weltberühmt gewordene Selbstanalyse eines Pfarrers, in deren Zentrum die Erfahrung des Bösen steht, „seiner ungeheuren Anziehungskraft des Hohlen, des Nichts.“ Dieser Roman wurde auch von Lesern bewundert, die die christliche Überzeugung seines Autors nicht teilen. Wie ist das möglich? Quack antwortet mit Gadamer: „Wirkliches Verstehen im Gespräch ist danach möglich, wenn man dem anderen zugesteht, dass er Wahres sagen könnte, was wiederum bedeutet, dass es eine gedankliche Grundlage gibt, die man mit dem anderen teilt.“(D 239) Als Sartre das Tagebuch von Bernanos lobte, wies er auf die Voraussetzungen hin, die es möglich machen, dass auch Nichtgläubige den Sinn des Werkes erfassen können. Denn obwohl wir in einer nachchristlichen Welt leben, so ist diese doch durch eine jahrhundertalte christliche Tradition geprägt. So dass gilt: Noch der radikalste Unglaube ist christlicher Atheismus!

Wie schon im Journal von Bernanos, so schreibt auch Graham Green in The power and the glory(1940) über das Leben der Armen und wieder geht es um den Gegensatz von Gut und Böse. Dieses Buch gilt nicht nur als Greenes bedeutendster Roman, es ist auch ein Schlüsselwerk der weltanschaulichen Auseinandersetzung im zwanzigsten Jahrhundert. Quack hat Döblins Hamlet einen christlichen Roman genannt, in dem es um die Frage nach dem wahren Menschenbild geht. Alice, Edwards Mutter, empfindet ihre menschliche Erniedrigung als Buße für eine Schuld. Allein der Nachdruck, mit dem die moralische Frage nach der Kriegsschuld gestellt wird, Edwards persönliches Bemühen um Redlichkeit, das Leitmotiv des Hamlet-Romans, zeichnet Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende als christlichen Roman aus. Und Arno Schmidt nannte Alfred Döblin „mit mehr Ernst als Scherz ‚den Kirchenvater unserer neuen deutschen Literatur‘“.

Josef Quack hält Alfred Döblin, aus seinen profunden literarischen und philosophischen Kenntnissen heraus, für den bedeutendsten deutschen Romancier der Moderne und sein Diskurs der Redlichkeit. Döblins Hamlet-Roman verfolgt den Zweck, diese These erneut zu bestätigen. Seine theoretischen Analysen und literarischen Interpretationen, seine heute wieder so aktuell gewordene Klärung ethischer und weltanschaulicher Fragen des Nachkriegs sind überzeugend und zeugen ihrerseits von intellektueller Redlichkeit. Die Notwendigkeit dieses Diskurses wird erst recht deutlich, wenn man feststellen muss, dass Döblins letzter Roman gleich in zwei gängigen Literaturgeschichten mit keinem Wort erwähnt wird: In Ralf Schnells 1993 bei Metzler erschienenen Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, sowie in der von Wilfried Barner bei Beck 1994 herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.

Der Diskurs der Redlichkeit ist aber nicht nur ein dringend notwendiger literarhistorischer Beitrag, er hilft hoffentlich auch mit, das ethische und politische Bewusstseins der Gegenwart zu schärfen. Ein Aspekt, den ich gerne ausdrücklicher formuliert gesehen hätte. Dies nur als kleine Anregung für ein weiteres von Josef Quacks immer wieder äußerst anregenden und höchst lehrreichen Büchern über die Literatur der Moderne .

(Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011)