lundi 2 mars 2015

Weibernarr

(Aus der la Meng 3)

Was haben eine Schublade und ein Blitzableiter gemeinsam?
Meine Notizen!

Heute ist mir das Morgenkäffchen kalt geworden. G hatte in der Küche aufgeschrien und ich war hinzu gestürzt, um unseren rotscheckigen Katzen ihre Beute abzunehmen. Ein Spatzenjunges, unversehrt, mit großer Angst in seinen winzigen Augen. Ganz leicht und warm lag es in meiner Hand. Und als ich es draußen unter den Holzscheiten neben dem Backofen vor beiden Minitigern versteckte, war es sofort verschwunden.

Das war noch mal gut gegangen!

Vor dem Aufstehen hatte ich den Bericht über die wieder aufgenommenen Ermittlungen im Fall des Terroranschlags auf dem Oktoberfest am 26. September(Geburtstag meines Bruders) im Jahr 1980 im Zeit-Magazin gelesen. Noch so eine Geschichte über die Neigung und Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes und anderer deutscher Dienste, die Spuren politischer Verbrechen, zuletzt die der NSU, zu vertuschen. Bevor auch meine politischen Spuren ganz verwischt sind, frage ich, wie es dazu kommen konnte, daß es mich auf die linke Seite und nicht auf die rechte Seite des politischen Spektrums getrieben hat. Waffennarr, der ich in meiner Jugend gewesen bin, ähnlich wie der Attentäter und seine rechtsextremen Hintermänner. Wahrscheinlich verdanke ich das meiner Neigung und Fähigkeit zum Mitleiden, fällt mir als erstes ein. Zweitens meiner Abneigung gegen und Unfähigkeit für alles militärisch Kriegerische, in seiner untergründigen Verbundenheit mit dem Widerspruch zu meinem Vater, dem lebenslang passionierten Jäger und Soldaten. Der es zu Hitlers jüngstem Oberstleutnant gebracht hatte, dann aber doch nicht dazu, Offizier der Bundeswehr zu werden. Bevor ich weiter abschweife, komme lieber zum dritten Grund dafür, dass ich in den 60/70er Jahren, anstatt ins rechtsextreme, ins Linksextreme Lager gedriftet bin. Meine frühe Neigung zu den Frauen! Die ich, komischer Weise, erst als Kader einer neostalinistischen Gruppierung auszuleben begann. Militarisiert, wie ich war. Denn als Spielerei war unsere bolschewistische Organisationsform ja wirklich nicht gedacht. Ein Glück nur, dass es wenigstens für mich nicht zum vorgesehenen blutig revolutionären Ernst gekommen ist. Für den Weibernarren.

dimanche 1 mars 2015

Sonntags im Winterfrühling

(Aus der la Meng 2)


Bei einem decaféinierten Käffchen in einem von meiner Frau getöpferten Tässchen kommt eines unserer wilden Kätzchen und will absolut gestreichelt werden, an diesem vernieselten Winterfrühlingsmorgen. Es ist der 45.Geburtstag meiner älteren Tochter. Und ich habe mich rasiert und mir mein Zickenbärtchen gestutzt. Nach einem Frühstück mit Spiegeleiern, einem für meine Frau und zweien für mich, alle drei gestern aus dem Hühnerstall geholt. Zum Nachtisch unseres Sonntagsfrühstücks gab es aufgetaute Plaumen aus dem letzten Sommer, bei welcher Gelegenheit meine Frau mir die Geschichte von den drei Frauen in Afghanistan erzählte.  Einer Mutter mit ihren beiden Töchtern, vor deren Augen der Vater und Mann von einer dieser Verbrecherbanden im Namen ihres Gottes getötet worden war. Was die drei Frauen nun ihrerseits nicht daran gehindert hat, die ganze Bande mit im Haus befindlichen Waffen niederzumähen. Und mir wiederum den ersten Ganzkörpergänseschauer an diesem denkwürdigen Tag zu bescheren. Nur wegen dieser schrecklich schönen Geschichte. So bin ich halt, eben auch nur einer dieser militanten Pazifisten.

mercredi 11 février 2015

AUF HÖHE DER ZEIT?

(Aus der La Meng 1)

Lieber nicht, sagt mir mein Instinkt. Sei's drum! Was und wie wäre es wohl, heutzutage auf der Höhe der Zeit zu sein? Und wo? In Minsk oder in Mali? Im Streufeuer dazwischen.

Aber, es ist ja nicht nur der Krieg im Norden und Süden Europas, der im Auge zu behalten wäre. Es ist auch der Schlaf der vielen zivilen Atombomben in meinem Gastland, vom Alarm der fliegenden nicht zu reden. Es braucht nur so eine kleine Karambolage, ein Flügelstreifen russisch-europäischer Kampfflieger über den baltischen Staaten und schon hätten wir das große, zunächst nur militärische Schlamassel. Wie es sich seinen Weg bahnt ins Globale.

So sähe es von außen aus, wie von innen?

Meine Frau meint, ich sei krank. Hätte mich endlich auch bei ihr und unseren Nachbarn mit ihren Husten und Schnupfen  angesteckt. Gestern Nacht war mir, ich hätte Fieber. Heute ist mir nur noch mulmig. Ich halte mich nämlich für im Kern gesund. Wer weiß! Wer weiß, was sich da alles angesammelt hat um diesen Kern, was ihn belagert. Wer weiß heute, was er gestern zu sich genommen hat. Was da alles drin war in dem, was wir täglich einatmen, aufessen und austrinken. Stillschweigend begleitet von was für Strahlungen auch immer. Gestern Abend zum Beispiel vergaß ich, den Stöpsel meines Computers neben dem Bett rauszuziehen, hatte aber wohlweißlich den des Handys reingesteckt. Damit ich, für den Fall aller Fälle, auch morgen noch hübsch unter Kontrolle bleibe. Für wenn ich mal ausraste.

Wie anders aber käme ich auf die Höhe unserer Zeit?

Indem ich jetzt mal rausgehe in die Februarsonne und die Vögel füttere. Werden eh immer weniger.   

mardi 24 avril 2012

Mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet



                                        Hans Falladas letzter, zensierter Roman  
Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts  stopfte Elise Hampel sonntags Socken und half ihrem Mann Otto beim Schreiben und anonymen Verteilen von Karten gegen Hitlers Kriege, gegen sein Regime der Angst und des Terrors. Noch haben sie Glück und werden nicht dabei erwischt. Doch bald schleichen sich Gewohnheit und Leichtsinn ein. Otto legt diese heißen  Karten in der Regel in Hausfluren und Treppenhäusern ab, dreimal im selben Gebäude, häufiger im gleichen Dreh des Wedding, dem Norden Berlins. Müllerstraße, Antwerpener, Brüsseler, Turiner, Malpaquetstraße. Ein dichtes Netz von Fundorten entsteht, weil beinahe jede dieser mühsam geschriebenen, unter Lebensgefahr abgelegten Karten bei der Geheimen Staatspolizei landet. Otto hatte sich und seiner Elise eine tödliche falle gebaut.

     Was ist das für eine Geschichte? Eine wahre, aus Gestapo-Akten rekonstruierte Geschichte. Fallada machte daraus seinen letzten Roman, den der Aufbauverlag 1947 postum, also ohne das Einverständnis des Autors, veröffentlichte. Über 60 Jahre später wird Jeder stirbt für sich allein ein Weltbestseller, der es in England bis unter die Schmöker und Kochbücher in Supermärkten schaffte.[1] Und das, obwohl in diesem Roman viel gequält und gestorben wird. Eine düstere Geschichte aus den Jahren 1940 bis 1942 in Berlin, „aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.“[2]

                                                            ESCHERICH
So nannte Fallada den Kommissar, der seine beiden Kartenschreiber, Anna und Otto Quangel jagt. Escherich verfolgt alle Spuren, auch falsche. Er weiß aus langer kriminalistischer Erfahrung, dass eine Spur zur anderen führen wird. Spuren Unschuldiger führen zu Spuren von Schuldigen. Escherich verwandelt die reichsdeutsche Metropole in das Netzwerk einer tödlichen Überwachung. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er unter all den arbeitenden, schlafenden, von Bomben bedrohten Menschen die Rebellen gegen Hitler herausgefischt und verhaftet hat.

„MÜTTER! HITLER MORDET EURE SÖHNE!“

       Für jede bei ihm abgelieferte staatsfeindliche Karte steckt Kommissar Escherich ein rotes Fähnchen auf den Stadtplan Berlins. Noch sind es nicht viele. „Aber in den nächsten Wochen werden immer mehr Fähnchen dazukommen, und dort, wo sie am dicksten sitzen, da steckt mein Klabautermann. Weil er nämlich mit der Zeit abstumpft und es ihm den weiten Weg nicht mehr lohnt wegen einer Karte. Sehen Sie, an diese Karte denkt der Klabautermann nicht. Und ist doch so einfach! Und schnapp mache ich  noch einmal und habe ihn auch so fest!“(213)

     Genau so wird es passieren, keine Aussicht auf Entkommen für Anna und Otto. So was liest sich nicht ohne Beklemmung. Und doch lese ich weiter und weiter, lüstern und beklommen. Bis mir mein perverses Vergnügen bewusst wird: Bin ich doch selber überwacht und folge gleichwohl dem Fall einer totalen Überwachung.[3] Das ist mir nicht neu, nur dass Fallada keinen Krimi geschrieben hat. Und lese doch weiter. Natürlich, aber warum? Weil es, wie ich glaube, so schlimm um mich nicht oder noch nicht stehen kann. Um Anna und Otto steht es viel schlimmer! Nicht ich lebe in einem totalitären System, aber sie, meine unbeholfen tapfer widerstehenden Eheleute. Auch spüre ich sie ja kaum, diese mich täglich überwachende, irgendwann zupackende Maschinerie eines auf Produktion und Konsum getrimmten, parlamentarisch nur noch mühsam gezügelten Systems.

     Lesend lerne, fühle ich, wie  es zugeht in einem von Angst und Terror bedrohten Alltag. Lesend  gehe ich mit ihnen und Escherich durch die Stadt meiner Geburt. Als sie ihre Karten gegen Krieg und Konzentrationslager ablegten, lag ich noch in den Windeln. Nichts ahnend lebte auch ich nicht ohne Bedrohung Mein Großvater hörte BBC. Meine Mutter hatte was läuten gehört, irgendwas von einer physischen Vernichtung irgendwo, sprich Ermordung psychisch behinderter Menschen und sich darüber in einem Brief an meinen Vater entsetzt. Keine unverdächtige Familie, ein Fall für Escherich. Noch über siebzig Jahre später fürchte ich sein Netz von Fähnchen auf dem Stadtplan Berlins mehr als elektronische Kameras.  Anna und Otto haben keine Ahnung von Escherichs Fähnchen, noch keine. Und ich? Was weiß ich heute denn schon, was andere über mich wissen! Wie, wenn meine nicht nur elektronisch überwachte Freiheit zur Falle geraten würde?

       Wird‘ mir jetzt nicht hysterisch!

     Du liest einen historischen Text! Es ist nur Literatur, ein starkes Leseerlebnis. Eine alte „Schmonze“[4], wie Fallada selber seinen letzten Roman einmal genannt hat, als er ihn fertig hatte. Weiterlesen! Die folgende Szene zum Beispiel: Ein Polizist, Falladas Füchslein, bewundert das tückisch strategische Fähnchen-Spiel seines Vorgesetzten Escherich, den großen Fuchs: „‘Und was dann?‘, fragte das Füchslein, von einer lüsternen Neugier angetrieben.

      Kommissar Escherich sah ihn ein bisschen spöttisch an. ‚Hören Sie ‘s so gerne? Na, ich tu Ihnen den Gefallen: Volksgerichtshof und weg mit der Rübe! Was geht das mich an? Was zwingt den Kerl, so ‘ne blöde Karte zu schreiben, die kein Mensch liest und kein Mensch lesen will. Nee, das geht mich nichts an. Ich bezieh mein Gehalt, und ob ich dafür Marken verkaufe oder Fähnchen einpieke, das ist mir ganz egal. (. . .) und wenn ich den Kerl gefasst habe und es ist so weit, so schicke ich Ihnen eine Einladungskarte für die Hinrichtung.‘

     ‘Nee, danke wirklich. So war das nicht gemeint!‘

     ‘Natürlich war es so gemeint. Warum genieren Sie sich denn vor mir?! Vor mir braucht sich kein Mensch zu genieren, ich weiß, was mit den Menschen los ist! Wenn wir hier das nicht wüssten, wer soll’s denn sonst wissen? Nicht mal der liebe Gott! Also, abgemacht, ich schicke Ihnen eine Einladung zur Hinrichtung. Heil Hitler!‘“(213)

      Fallada wird uns zu dieser Hinrichtung einladen. Er weiß es noch besser, was mit den Menschen los ist. Und serviert dieses Wissen so kaltschnäuzig, dass sich mir die Haare jetzt schon sträuben. Er zeigt uns auktorial lakonisch, wie Quangels ihr Leben ein bis zweimal pro Woche riskierten, nachdem sie sich zum Widerstand gegen Hitler entschlossen hatten. Und dies nach oder noch vor der täglichen Arbeit! Er zeigt uns aber auch, wie cool, um es unbekümmert modisch zu sagen, über das Leben und Sterben dieser seiner Zeit raren Menschen von denen gedacht und verhandelt wurde, die diesen Widerstand zu brechen versuchten. Falladas Stil und Ton reflektieren die nüchterne Sachlichkeit in der täglichen Praxis des Widerstands und seiner Verfolgung.[5]  Kommissar Escherich z.B. ist nicht etwa von Hitlers Politik überzeugt. Er ist in erster Linie ein kriminalistisch geschulter, politisch neutraler Beamter. Und die Quangels sind ihm ein Dorn im Auge, sie fordern seine beruflichen Fähigkeiten heraus, noch bevor er sie gefasst und persönlich kennen gelernt hat.

      Dann ist es so weit: Der Kommissar hat endlich Erfolg. Otto muss das Vergebliche seines Widerstands nur noch einsehen, auch dass er dafür sterben muss. Escherich triumphiert. Der Widerstand der Quangels ist an ihm gescheitert. „Und bedenken Sie doch eines, Herr Quangel“, fuhr der Kommissar (…) fort, „all diese Briefe und Karten sind freiwillig bei uns abgeliefert. Wir haben keine von uns aus gefunden. Die Leute sind damit förmlich gelaufen gekommen, als brennte es. Sie konnten sie nicht schnell genug los werden, die meisten haben die Karten nicht einmal gelesen . . .“(499) Otto bleibt aufrecht, auch angesichts des Todes: „Nein, das werden Sie nie verstehen. Es ist egal, ob nur einer kämpft oder  zehntausend; wenn der eine merkt, er muss kämpfen, so kämpft er, ob er Mitkämpfer hat oder nicht. Ich habe kämpfen müssen, und ich werde es immer wieder tun. Nur anders, ganz anders.“(501)

    Ich nehme an, dass gerade das Scheitern dieser kartenschreibenden Widerständler zum weltweiten Erfolg von Jeder stirbt für sich allein beigetragen hat. Widerstehen, auch wenn es sich nicht bezahlt, gehört heute wieder zu einem Lebensgefühl, das sich mit Geld alleine nicht mehr abspeisen lässt.[6] „Sie arbeiten für einen Mörder“, muss Escherich sich von Otto sagen lassen, „und Sie liefern  dem Mörder stets neue Beute. Sie tun’s für Geld, vielleicht glauben Sie nicht mal an den Mann. Nein, Sie glauben bestimmt nicht an ihn. Bloß für Geld . . .“(502)

    Falladas Kommissar arbeitet nicht nur für einen Mörder. Dieser Kommissar wird selber zum Mörder an Enno Kluge, einem windigen Kleinkriminellen und Schürzenjäger, der dem Kommissar berufliches Versagen hätte nachweisen können. Aber selbst Escherich ist kein Unmensch. Ottos Aufrichtigkeit hat schließlich doch  noch einen Rest von moralischem Anstand in ihm wachgerufen. „Es ist mir immer gleich gewesen, wer am Ruder saß, warum dieser Krieg geführt wurde, wenn ich nur meinen gewohnten Geschäften nachgehen konnte, dem Menschenfang. Dann, wenn ich sie erst hatte, war mir gleichgültig, was aus ihnen wurde . . . Aber jetzt ist es mir nicht gleichgültig. Ich bin dessen so überdrüssig, es ekelt mich an (…) seit ich diesen Quangel fing, ekelt es mich an. Wie er dastand und mich ansah. (…) Das hast du getan, sagte sein Blick, du hast mich verraten! Ach, wäre es noch möglich, ich würde zehn Enno Kluges opfern, ihn frei zu machen! Wäre es noch möglich, ich würde fortgehen von hier, ich würde etwas beginnen wie Otto Quangel, etwas besser Ausgedachtes, aber ich möchte kämpfen.“(505)

     Schlussendlich verzweifelt, reißt Falladas negativer Held sein Erfolgsgeheimnis, die Stadtkarte Berlins mit all roten Fähnchen von der Wand seines Arbeitszimmers und jagt sich eine Kugel durch den Kopf. „Der herbeistürzende Posten fand nur einen fast kopflosen Leichnam hinter dem Schreibtisch. Die Wände waren mit Blut und Hirn bespritzt, an einer Lampe hing, zerfetzt und schmierig, der semmelblonde Schnurbart des Kommissars Escherich.“(506) Ebenso drastisch[7] wie ironisch besiegelt Fallada die moralische Bekehrung Escherichs. Die Ohnmacht hatte die Macht, David Goliath besiegt.  „Holt dieses Schwein, den Quangel, rauf!“Ruft Escherichs herbeigeeilter Vorgesetzter, ein politisch überzeugter Nationalsozialist.  „Er soll sich die Sauerei hier ansehen, er kann sie wegmachen!“ Und, ganz nebenbei, quasi noch unter Escherichs Hand, hat Fallada mit Escherichs Tod, nur  eine weitere Facette des Widerstandes im Kampf gegen Hitler in Erinnerung gebracht. Escherich wollte kämpfen wie Otto, in dem er noch etwas Mächtigeres als seine Dienststelle und deren Machtapparat erkannt hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Selbstmord eine Facette des Widerstands darstellt. Selbstmord aus Verzweiflung am eigenen Tun, an einem falsch geführten oder zu einem falschen Ende geführten Leben ist etwas Anderes, als der Selbstmord der Verfolgten und Folter bedrohten.

OTTO QUANGEL

      Otto Quangel, stets kühl bis ans Herz, geht  aufrecht bis vor das Fallbeil. Die Henkersmahlzeit, auch die Zigaretten lässt er zurückgehen. Sich waschen, das will er noch. Aber da kommt schon der Scharfrichter und seine Schergen scheren Ottos Kopf kahl, rasieren  ihm den Nacken aus. Otto lässt alles ruhig über sich ergehen. Diese Prozedur dauert nur sieben Minuten. Und nun hat Scharfrichter nur noch eine Bitte: Otto möge seine Enthauptung nicht unnötig in die Länge zu ziehen!  Zeit ist Geld, auch in der Todeszelle.

     Aber die Haare! Der Scharfrichter will nicht nur Ottos Leben, er will auch seine Haare: „‘Sei so nett und feg dein Zeug selber zusammen. Du bist nicht dazu verpflichtet, verstehst du, aber wir sind knapp mit der Zeit. Der Direktor und der Ankläger können jeden Moment kommen. Schmeiß die Haare nicht in den Kübel, ich leg dir hier ‘ne Zeitung hin: wickle sie ein und lege sie neben die Tür. Es ist ein kleiner Nebenverdienst, du verstehst?‘

     ‚Was machst du denn mit meinen Haaren?‘, fragte Quangel neugierig.
     ‚Verkauf ich an einen Perückenmacher. Perücken werden immer gebraucht. Nicht nur für Schauspieler, auch so. Na, dann dank ich auch schön. Heil Hitler!‘“(654)

    Fallada spielt das Entsetzliche runter, bis ins Abseits des Erträglichen. Die industrielle Verarbeitung der Haare der Opfer in Auschwitz war mir bekannt, die private Verwendung der Haare der in Plötzensee geköpften Widerstandskämpfer nicht.

     „‘Der Scharfrichter kam mit seinen beiden Gehilfen auf ihn zu. Er streckte ihm die Hand hin
     ‚Also, nimm mir ’s nicht übel!‘, sagte er.
     ‚Nee, zu was denn?‘, antwortete Quangel und nahm mechanisch die Hand.‘“(657)

     Warum diese Nonchalance? Fallada konnte nicht anders. Er wollte auch das Furchtbare nicht gut schreiben und schrieb nicht einmal bewusst gegen das heroische Pathos der offiziellen antifaschistischen Heldenverehrung. Das lag ihm nicht. Die Helden seiner Romane  waren immer schon kleine oder keine Helden. Auch Otto Hampel war kein Vorzeigeheld, wie aus den Gestapo-Akten ersichtlich. Otto Quangel konnte keiner werden. Dieser Otto war und ist ein einfacher, in sich gekehrter Mensch, der nicht mehr mit gemacht haben und wieder anständig geworden sein wollte. Dieser Wortwechsel mit einem Henker ist so geschrieben, als ginge es gar nicht um die Hinrichtung eines Freiheitskämpfers. Freiheitskämpfer waren nicht Falladas Fall, weder vor, während oder nach dem Faschismus. Und doch ging es immer um Freiheit in Falladas anderen Welterfolgen Kleiner Mann – was nun?(1932) und Wolf unter Wölfen(1937).  Das herzlich Gewöhnliche der Menschen, das war es, was diesen Autor faszinierte. Politisch korrekt war das nicht nach 1945 im Osten Deutschlands. Aber es war sein Stoff, der ihm 1946 zunächst gar nicht gefallen wollte.[8] Diese unter dem Faschismus noch gesteigerte deutsche aussichtslose Trostlosigkeit! Die er am eigenen Leibe erfahren und gegen die er sich manisch schreibend, trinkend und sich betäubend gewehrt hatte.
    Heldentum war seine Sache also wirklich nicht. Zwölf Jahre mehr oder weniger mit geschwommen sein und sich dann heldisch frei schreiben? Das kam nicht in Frage. Doch nun zurück in Ottos Todeszelle:
     „‘Nun mal los, alter Junge!‘, mahnte der Scharfrichter. ‚Mach jetzt keine langen Geschichten. In zwei Minuten hast du es ausgestanden. Hast du übrigens an die Haare gedacht?‘
     ‚Liegen an der Tür‘, antwortete Quangel.‘“(659)

     Aufklären, nicht verklären.

                                                       ANNA QUANGEL

Die Frage, wie man aus der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen wieder heraus kommt, ohne dafür in ein Konzentrationslager zu geraten oder gar in Plötzensee zu enden, mögen sich seiner Zeit viele in Gewissensnot geratene Frauen und Männer als Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen gestellt haben. Anna Quangel hat einen Posten im NS-Frauenbund, will den aber unbedingt los werden. Nichts wie raus aus der Mörderbande „der Schmeißfliegen und Speckjäger, denen es nur um Geldscheffeln und Lebeschön“(59) geht, wie ihr Otto sich auszudrücken pflegt. Wieder anständig werden wollte sie! Aber wie?  Anna denkt nach und hat eine listige Idee: „ …zu viel zu wissen, zu schlau zu sein, das war denen noch lästiger als ein bisschen (politische, EM) Doofheit. Und Überklugheit, gepaart mit Übereifer, ja, so musste es gehen.“(164f) Zu Annas Hauptaufgaben im Frauenbund gehörte es seiner Zeit, als der „Zwangsarbeiter-Import noch nicht so recht in Gange war“, Drückeberger und Arbeitsscheue, also Verräter am Dritten Reich und seinen innen- und außenpolitischen Zielen, ausfindig zu machen. „Grade erst kürzlich hatte das Ministerchen Goebbels in einem Artikel hämisch auf jene geschminkten Dämchen hingewiesen, deren rotlackierte Fingernägel sie noch lange nicht von der Arbeit für das Volk – und nicht etwa nur von der Büroarbeit! – frei machten.“(165) Was dazu führte, dass Goebbels  sich gezwungen sah,  einen weiteren Artikel zu veröffentlichen, in dem er darauf aufmerksam machte, dass rote Fingernägel nicht ohne weiteres Merkmale für arbeitsscheue Volksgenossinnen wären. Womit er der Denunziation Türen und Tore öffnete.

     Als das Dienstmädchen der Parteibonzen nur mal nachsehen will, ob die gnädige Frau auch für so eine wie die Anna zu sprechen ist, fragt die mit  gesenkter Stimme: „ . . . gnädige Frau? So was gibt es doch im Dritten Reich gar nicht mehr! Wir arbeiten alle für unseren geliebten Führer – jedes an seinem Platz! Ich will zu Frau Gerich!“

      Eine Szene, schon deshalb köstlich, weil es so viel zu lachen ja nicht gibt in Falladas letztem Roman.[9] Anna spielt die politisch überzeugte Nationalsozialistin, für die Dienstmädchen unnötiger Luxus sind: „‘Können Sie wirklich nicht ihren Mann alleine versorgen? Noch ein Mensch mehr der Rüstungsindustrie entzogen, werde ich mir notieren! Kinder haben Sie natürlich keine?‘
     ‘Nein, Kinder natürlich keine!‘, sagte Frau Gerich jetzt auch sehr scharf. ,Aber Sie können sich noch notieren, dass ich mir zwei Hunde halte!‘
     Anna Quangel richtete sich steif auf und sah die andere mit düster glühenden Augen an. (In diesem Augenblick hatte sie vollkommen vergessen, warum sie diesen Besuch gemacht hatte.) ‚Sagen Sie mal!‘ rief sie und gab ihrer Stimme absichtlich einen gewöhnlichen Klang. ‚Wollen Sie sich etwa über die Arbeitsbestimmungen und unsern Führer lustig machen? Ich warne Sie!‘
    ‚Und ich warne Sie!‘, schrie Frau Gerich dagegen. ‚Sie scheinen nicht zu wissen, bei wem Sie sind! Ich und mich über eine Bestimmung lustig machen! Mein Mann ist  Obersturmbannführer!‘
     ‚Ach so!‘, sagte Anna Quangel. ‚Ach so!‘ Ihre Stimme war plötzlich ganz ruhig geworden. ‚Na ja, Ihre Angaben habe ich nun, Sie bekommen dann Bescheid! Oder haben Sie noch irgendwas geltend zu machen? Vielleicht eine kranke Mutter zu versorgen?‘.
     Frau Gerich zuckte nur verächtlich die Achseln. ‚Ehe Sie jetzt gehen‘, sagte sie, ‚möchte ich doch einmal Ihren Ausweis sehen. Ich hätte mir auch gerne Ihren Namen notiert.‘
     ‚Bitte!‘, sagte Frau Quangel und hielt der anderen ihren Ausweis hin. ‚Steht alles drauf. Visitenkarte habe ich leider keine.‘“(169f)

     Frau Obersturmbannführer Gerich notiert sich Annas Namen und schon hat Anna erreicht, was sie erreichen wollte: Man wird sie rauswerfen aus dem NS-Frauenbund! Und jetzt werden Anna und Otto ihre erste  anonyme Karte schreiben, sie in einem Treppenhaus heimlich ablegen, wo sie gefunden und schleunigst auf die nächste Polizeistation getragen wird. Von dort bis in Annas Todeszelle ist es dann nicht mehr weit. Hier aber befreit Anna sich ein zweites Mal, indem sie der Versuchung eines Selbstmords durch Zyankali widersteht. Das macht sie wiederum innerlich so frei, dass sie zuletzt nur noch vom Wiedersehen mit ihrem Mann träumt. Und so strickt und träumt sie so lange, bis sie in einer Bombennacht von einer Mine zerrissen wird. „Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt, aus ihrem Wiedersehenstraum aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist jedenfalls dort, wo auch er ist. Wo immer das nun sein mag.“(662) So kam es also, dass Anna Hampel, anders als ihr Mann Otto, nicht unter das Fallbeil in Plötzensee geriet.
     Aus den Recherchen Manfred Kuhnkes geht hervor, dass Frau Elise Hampel, geborene Lemme,  am 8. April 1943 sechs Stunden auf die ihr angekündigte Enthauptung hat warten müssen, um sodann um 19 Uhr 20, ohne jedes Wiedersehen mit ihrem Mann, zwei Minuten nach ihm enthauptet wurde. Seine Hinrichtung dauerte 14, ihre 16 Sekunden.[10]

                                                               KNIEFÄLLE

     Zu meinem Leseerlebnis von Jeder stirbt für sich allein gehören ein paar Fragen, die ich mir stellte, nachdem  ich Manfred Kuhnkes wahre Geschichte hinter Falladas letztem Roman gelesen hatte. Ihm verdanke ich, was mir bis heute über den historischen Hintergrund dieses Romans, sowie über seine politische Zensur bekannt geworden ist. Alles begann mit Johannes R. Becher[11], der mit der sogenannten Gruppe Ulbricht aus dem Moskauer Exil zurück gekommen war. Den zweiten Weltkrieg, insbesondere aber die ebenso entsetzlichen wie traumatisierenden Erfahrungen des stalinistischen Terrors im intellektuellen Gepäck, sorgte Becher im Rahmen seiner kulturpolitischen Bemühungen auch dafür, dass Hans Fallada ein Teil, der schönere Teil des Widerstandes des Ehepaars Hampel in Form von Gestapo-Akten zugespielt wurde. Der hässliche Teil, nämlich der moralische und politische Zusammenbruch des Ehepaars Hampel in den Gestapo-Verhören wurde ihm bewusst  vorenthalten. Ein Faktum, das seit dem Jahr 2001 unter Fallada-Spezialisten bekannt gewesen war, gleichwohl aber  bis heute ignoriert oder verharmlost  wird.[12]
     Elise und Otto Hampel hatten sich, ganz anders als die fiktiven Quangels, angesichts des ihnen drohenden  Todes gegenseitig verraten und waren dabei vor Hitler derart auf die Knie gefallen, dass sie ihren Widerstand im Nachhinein radikal verleugneten. Was auch heute noch ebenso traurig wie menschlich verständlich erscheint, passte Johannes R. Becher und den Verantwortlichen im Aufbau-Verlag nicht in das politische Programm eines demokratischen Neuanfangs, dem Falladas letzter  Roman letztlich  dienen sollte. Anna und Otto Quangel waren nicht gerade „eindeutig, kraftvoll, überzeugend, leuchtend“.[13] Elise und Otto Hampel waren es noch weniger. Und doch stehen sie heute noch zusammen mit der Weißen Rose, der Roten Kapelle, dem Kreisauer Kreis, Georg Elser, den Männern um den 20. Juli 1944, Männern und Frauen des christlichen Widerstandes sowie vielen Anderen für den deutschen Widerstand. Der scheiterte,  weil die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung vor dem Faschismus kapituliert hatte. Elise und Otto Hampel nicht!
    Manfred Kuhnke verdanken wir die kostbare Erinnerung an Helga Schuberts Tränen auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR. Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, im November 1987 hatte sie den Anwesenden nach Einsicht in den hässlichen Teil der Gestapo-Akten Folgendes über ihr Empfinden während des Aktenstudiums gestanden:“ Was ich da las, war so tragisch, dass ich zu weinen anfing . . . das finde ich schlimm, durch Folter verloren sie ihre Menschenwürde  . . . für mich ist es viel tragischer und rührender, dass Leute, die so mutig viel auf sich genommen . . . trotzdem gebrochen werden durch Folter.“[14] Heute glauben wir zu wissen, dass das Ehepaar Hampel nicht gefoltert wurde, sondern jeweils von einem bestellten Anwalt beraten – möglicher Weise auch von diesen gegeneinander aufgehetzt und in Todesangst versetzt – innerlich zusammenbrachen.[15] Frau Elise und Herr Otto Hampel wurde also nicht nur das Leben, sondern auch ihre moralische und politische Identität geraubt. Dies einem Autor des demokratisch-antifaschistischen Widerstands verschwiegen zu haben, halte ich nicht nur für eine Fälschung von Tatsachen, sondern auch für einen Verrat an der geschändeten Menschenwürde als massenhaft erlebter historischer Wirklichkeit unter dem Faschismus. Begangen nicht etwa von Hans Fallada, sondern von jenen Kulturpolitikern im Auftrag Stalins vor denen schließlich auch Johannes R. Becher in die Knie gegangen war. Wobei Kniefälligkeit vor dem Faschismus und Stalinismus in der Mitte des 20.Jahrhunderts kein besonders deutsches Phänomen geblieben ist.
     Helga Schubert hatte noch versucht, das Verschweigen der ganzen Wahrheit über diese  beiden  Widerstandskämpfer mit der auf den Schriftstellern der unmittelbaren Nachkriegszeit lastenden Forderung des Tages zu erklären: „ Aber vor allem war es damals wichtig, ein Buch zu schreiben über einfache Leute, die ihr Leben eingesetzt haben gegen die Barbarei und bis zum Schluss aufrecht  geblieben sind. Historisch ist es nicht wahr . . . und was die Sache so tragisch macht: Ein Schriftsteller konnte so kurz danach  . . . den Hergang nicht so darstellen, wie er sich zugetragen hatte, weil es zunächst wichtiger schien, ein aufrechtes Ehepaar darzustellen.“[16] War es wirklich wichtiger? Wie viele waren es denn, die 1945 nicht auf Knien, also moralisch und politisch gebrochen, der Hölle des Nationalsozialismus entkommen waren? Die deutsche Mehrheit sicher nicht![17] Wäre es da nicht vielleicht richtiger gewesen, diese nicht nur deutsche Kniefälligkeit vor Hitler, den Verrat der Freiheit und des Menschenrechts an die moderne Barbarei öffentlich zu diskutieren, literarisch zu gestalten und eben nicht erst auf die lange Bank zu schieben? Die ganze Wahrheit über das tragische Ehepaar Hampel hätte hier helfen können. Und wie kamen ausgerechnet Johannes R. Becher und seine Getreuen aus jenen mörderisch verlogenen Moskauer Jahren im Hotel Lux  und anderswo dazu, einem gerade sich selber gegenüber so  aufrichtigen  Autor wie Hans Fallada und seinen Lesern die ganze Wahrheit der Hampels in ihrer furchtbaren Tragik zu verheimlichen? Jedenfalls fing der Skandal der politische Zensur von Falladas letztem Roman hier schon an, nämlich mit der Instrumentalisierung der Gestapo-Akten bzw. zweier Menschenleben. Und nicht erst mit politischen Streichungen des Lektors Paul Wiegler.[18]
         Ehemalige Nationalsozialisten, die sich aus ihrer pronazistischen Haltung befreiten, waren 1946/47 im Einflussbereich des Ostberliner Kulturbundes und seiner demokratisch-antifaschistischen Bündnispolitik politisch nicht erwünscht. Also musste Anna Quangels Selbstbefreiung, ihr geschickter Ausstieg aus dem NS-Frauenbund gestrichen werden. Gestrichen wurde deshalb auch die NS-Mitgliedschaft der Briefträgerin Eva Kluge, so wie die blutige Vorgeschichte des schließlich politisch geläuterten, ehemaligen NS-Richters Fromm. Eliminiert wurde alles, was Fallada interessiert hätte, nämlich die Schwäche und Haltlosigkeit der Menschen, ihr moralisches Verkommen und Verbluten unter der nationalsozialistischen Diktatur. Eine Erfahrung, die Hans Fallada durchaus nicht fremd war.[19] 
     Auch Kommunisten waren übrigens nicht gefragt. Anna Quangels Schwiegertochter in spe, die Verlobte ihres gefallenen Sohnes Trudel ist in Falladas zensiertem Roman eine Kommunistin, durfte es aber ab 1947 bis ins Jahr 2011 nicht sein. Kommunisten waren zwar an der Macht, in ihren Bündnissen hielten sie sich lieber im Hintergrund. Seit der Neuausgabe von Jeder stirbt für sich allein im Frühjahr 2011 spielen alle diese politischen Zensuren eigentlich kaum noch eine Rolle. Sie allerdings heute nicht mehr als solche wahrhaben zu wollen, hilft mit, die deutsche Nachkriegsgeschichte zu verdunkeln. [20] Eine gefährliche Mithilfe![21]

                                                         POSTSCRIPTUM    

Mein Vergnügen beim Lesen von Jeder stirbt für sich allein war also nicht ungetrübt. Ich musste dieses dicke Buch  weglegen, um es dann doch immer wieder aufzuschlagen. Es ließ mich nicht los. Erst recht nicht, als ich Manfred Kuhnkes Hintergrundgeschichte mitlas. Dass ich dann in den Tagen meiner Fallada-Lektüre in Buchenwald war, betrachte ich als einen günstigen Zufall. Denn während ich über den holperig schwarzen Schotter des Appellplatzes ging, fiel mein Blick rechts hinunter auf die hell blinkenden Stelen zur Erinnerung an die in der DDR tabuisierten Massengräber des Speziallagers 2. Und ich fragte mich, was mit Anna Quangel, so wie wir sie erst ab dem Jahr 2011 kennen, geschehen wäre, wenn sie, statt in einer Bombennacht in Berlin gestorben zu sein, die Befreiung Deutschlands noch hätte erleben dürfen. Wäre sie nicht in Buchenwald 2 oder in einem der anderen Todeslager[22], denunziert oder nicht, wegen ihres NS-Postens qualvoll zugrunde gerichtet worden? Und was erst wäre mit Elise Hampel geschehen? Wer hätte sich 1945 für eine Frau erbarmt, die ihren und den Widerstand ihres Mannes in Todesangst verraten hatte?  
     Während Deutschlands Entnazifizierung im Westen misslang, marschierte die Stalinisierung im Osten[23], verlief sich der sogenannte Bechersche Weg[24], siegte Shdanow über Alexander Dymschitz.  Dies und vieles mehr steht hinter den Hans Fallada vorenthaltenen Gestapo-Akten, unter den Strichen in seinem Schreibmaschinenmanuskript.  
     Mit Hans Fallada starb vor fünfundsechzig Jahren einer der  bedeutendsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat wie kein Anderer den Facettenreichtum des Alltags der Deutschen auf ihrem Weg aus dem ersten in den zweiten Weltkrieg beschrieben und dies in einer schnörkellosen, modernen Weise. Widerspruchsreich und lebensnah bis in den berliner Dialekt, statt pathetisch erhaben und eben deshalb so reich an menschlicher Wirklichkeit, hat er in seinem letzten Roman die ganze historische Wahrheit über die Deutschen unter dem Faschismus, ihre Kniefälligkeit vor dem radikal Bösen im Deutschland Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, jedoch über Wege des Widerstands und Haltungen des Nein-Sagens gestaltet. Und dies eben auch ohne Kenntnis der ganzen Aktenwahrheit der Gestapo! Denn alle seine um die Hausfrau Anna und den Vorarbeiter Otto sowie den mörderischen Polizisten Escherich herum gestalteten Menschen erleben wir in ihrem gewöhnlichen Menschsein und dessen unvermeidbaren Verstrickungen. Wir erleben sie so, wie wir uns erleben: Ganz privat, in Geldnöten, in ihrem Bedürfnis nach Anstand, auch nach Liebe, in ihren Lügen und Enttäuschungen, obendrein „erledigt von diesem ewigen Vorsichtigsein, dieser nie ablassenden Angst …“(176)   
      Ganz allmählich nur hat Fallada uns so das Geheimnis des gescheiterten  Widerstandes gegen die Barbarei verraten: Es lag ja in dieser Luft unter dem Faschismus, und nicht nur in Berlin. Es war so etwas wie eine ungemein verdünnte und doch lebensgefährliche Essenz. Gefiltert durch  Angst vor dem Tod in Buchenwald oder in  Plötzensee, aber auch durch den Willen, durch die Gier am Leben bleiben zu wollen. Wer hätte diese Luft seiner Zeit nicht mit Herrn und Frau Hampel,  sowie dem Ehepaar Quangel atmen müssen? Und, teilen wir, unter anderen historischen Bedingungen, diesen Lebensinstinkt nicht heute noch mit ihnen? Weiter, was hätten wir an ihrer Stelle getan? Was würden wir heute wofür oder schon nicht mehr wagen? 
      Wer noch hat uns das so ganz nebenbei, so unaufdringlich gefragt?[25] Fallada wollte nur wissen „ wie ein kleiner Mann aus dem Volke einen von vornherein aussichtslosen Kampf gegen die Hitlersche Staatsmaschinerie führt.“[26] Ohne, dass er selbst dergleichen gewagt hatte. Wofür er sich übrigens schämte! Mit dieser Scham auch ist ihm sein letzter, leider zensierter, großer Roman gelungen. Ist dies Falladas Vermächtnis aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts für das, was vor uns liegt?

      



[1] „Seit etwa zwei Wochen aber findet sich bei Tesco und Sainsbury, den zwei größten hiesigen Ketten, auch ein in der Klassikerreihe des Penguin-Verlages erschienener deutscher Roman, der über Jahre hinweg von einem britischen Verlag nach dem anderen abgelehnt wurde: Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein.(Frankfurter Allgemeine, 5.8.10.) Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein, Berlin 2011. – Die Seitenzahlen werden in Klammern hinter den Zitaten angegeben.  
[2] Aus dem Vorwort des Autors am 26. Oktober 1946
[3] Werde ich nicht sogar in meinen privaten Gewohnheiten und Sehnsüchten ausgeforscht? Von den allgegenwärtigen Kamera-Augen und der Kreditkartenkontrolle nicht zu reden.
[4] Fallada in einem Brief am 5.11.1946 an Kurt Wilhelm, den Chef des Aufbau Verlages
[5] John Gray meint, Hannah Ahrendt hätte statt von der Banalität des Bösen, von der Banalität politischer Verbrecher sprechen sollen. Siehe hierzu u.a.: Politik der Apokalypse, Wie Religion die Welt in die Krise stürzte. Stuttgart 2009, Seite 64
[6] Stephan Hessels Manifest „Empört Euch!“ hat in Frankreich hunderttausende von Menschen erreicht und bewegt. Es ist auch in Deutschland bekannt geworden und drückt eine Lebensauffassung aus, die der Occupy-Bewegung nahe kommt. Dass die Gefahren des Totalitarismus nicht verschwunden sind, gehört zum politischen Hintergrund beider Bewegungen. Hessel rief auch auf zu einem „friedlichen Aufstand gegen die Massenmedien, die unserer Jugend keine anderen Ziele anbieten als Massenkonsum, Verachtung für die Schwächeren und für die Kultur, eine allgemeine Amnesie und eine maßlose Konkurrenz aller gegen alle.“(Zitiert nach Empört euch!, Stéphane Hessel in: Frankfurter Allgemeine 9. Januar 2011, Seite 21
[7][7] Die Drastik dieses Todes fiel leider der Zensur zum Opfer, wie ein Vergleich der Seite 476 der alten Ausgabe(1981 bzw. 1994) mit der Seite 506 der neuen(2011) ergibt. Was dazu führte, dass Escherichs Tod um ihren Sarkasmus gebracht wurde.
[8] Warum nicht? “Einmal wegen der völligen Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vorneherein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit, kein Hochschwung.“ Zitiert nach Almut Giesecke Seite 691
[9] Hier fackelte der Zensor nicht lange, sie wurde ganz gestrichen.
[10] Manfred Kuhnke, Falladas letzter Roman, Die wahre Geschichte, Steffen Verlag, Friedland 2001, Seite 57
[11] Über Johannes R. Becher, sein Leben und Werk, seine politische Gebrochenheit nach 1945, auch über seinen moralischen Zusammenbruch siehe Kuhnke S.12f: „Hans Fallada, Johannes R. Becher und Andere“.
[12] Kuhnke Seite 18f: „Otto und Elise Hampel – Otto und Anna Quangel“. Im Nachwort zur Neuherausgabe heißt es in diesem Zusammenhang: „Zu Falladas Umgang mit dem Faktenmaterial gibt es in der Forschung unterschiedliche Positionen.“(Seite 698, Anmerkung 10) Es entsteht der Eindruck, als wären Kuhnkes Ergebnisse umstritten. Sie wurden aber jahrelang kaum zur Kenntnisgenommen. Der Tagesspiegel erwähnt das Ehepaar Hampel in seiner Besprechung vom 5. März 2011 mit keinem Wort. Die Tageszeitung macht in ihrer Besprechung vom 19./20. März 2011 aus dem Bruder Elise Hampels den Sohn der Quangels. In der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. März 2011 hat Manfred nur „gute Gründe für die Annahme zusammengetragen, dass Hans Fallada nur einen Auszug aus der Gestapo-Akte in die Hand bekommen hatte … .“ In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.O3.  2011 macht Becher Fallada „mit den Prozessakten des Falles bekannt.“ 
[13] Schon am 4. Juli 1945 fand die erste öffentliche Kundgebung des Kulturbundes statt, auf der Becher die spezifischen Lehren für die Pflichten der Zukunft zog: „Dieses reiche Erbe des Humanismus, der Klassik, das reiche Erbe der Arbeiterbewegung müssen wir nunmehr in der politisch-moralistischen Haltung unseres Volkes eindeutig, kraftvoll, überzeugend, leuchtend zum Ausdruck bringen.“ Becher, Johannes R.: Publizistik II.1939 – 1945. Berlin/Weimar 1978, S. 356. Zitiert nach Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hrsg. von Wilfried Barner, München 1994
[14] Kuhnke Seite 22
[15] Die Gnadengesuche belegen, so Kuhnke, „ den furchtbaren Tatbestand des moralischen Zusammenbruchs von Otto und Elise Hampel. Auf vielen Seiten wird in ungelenker Schrift und schwerfälligem Stil sichtbar, wie sie ihre bis zur Verurteilung bewahrte Menschenwürde verlieren, sich gegenseitig beschuldigen, verdächtigen und sich selbst reinzuwaschen versuchen.“(33) Otto Hampel im Original:“Ich sehe es aus innerer Vernunft ein das der Text der Karten abfällig ekelhaft ist . . .“(ebenda).
[16] Kuhnke Seite 22
[17] Nur eine kleine radikale Minderheit wurde nicht moralisch und geistig ruiniert. Wovon Lina Haar und ihr Bericht Eine Handvoll Staub, Widerstand eine Frau 1933-1945 Anfang 1947 Zeugnis ablegte. In der Zeit also, in der Falladas letzter Roman erschien. Lina Haag erzählt die Geschichte ihres Widerstandes und ihrer Verfolgungen in Form eines langen Liebesbriefes. Ein ‚document humain‘ des Nachkriegs, wie Axel Eggebrecht es nannte. !947 war es sofort vergriffen. Und doch dauerte es dreißig Jahre, bis es 1977 wieder aufgelegt wurde. Oskar Maria Graf, dem es zufällig in seinem New Yorker Exil in die Hände geraten war, schrieb: „Es schwingt im Lesenden nach wie ein innerstes Beben. Es bleibt noch lange in ihm wie eine nachhaltende Bestürzung, ein sprachloses Erstaunen über eine so tiefe Herzenskraft, und es erweckt wieder den Glauben an das Menschlichste in uns allen, an das Wunder einer unbeirrbaren Liebe.“(Zitiert aus dem Nachwort des Fischer Taschenbuchs, Frankfurt am Main 1995, S. 165 Aber nicht dieses moralisch und politisch eindeutige Buch, sondern das   
[18] Siehe auch Almut Giesecke im Nachwort von Jeder stirbt für sich allein, Seite 696: „Wo Wiegler allerdings konsequent eingriff und damit auch den Inhalt veränderte, ging es fast immer um politische Aspekte.“ Und doch soll es sich nicht um einen Fall von politischer Zensur handeln!
[19] Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal an Falladas Trunksucht erinnert, nachzulesen in dem erschütternden Roman Der Trinker(1950 bei Rowohlt, 1953 im Aufbau-Verlag, 1995 mit Harald Juhnke in der Hauptrolle verfilmt )Auch seinen politischen Opportunismus im Fall seiner unfreiwilligen Verbeugung vor den Nazis in Form des abgeänderten Schlusses des Romans Der eiserne Gustav(1938) hat er nie verschwiegen.
[20] Siehe u.a. Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. März 2011, Seite 17: „ Ein Fall von politischer Zensur ist das nicht.“ Für Die Tageszeitung handelt es sich nur um „verlegerische Eingriffe“, es wurde nur “geglättet“, „von politischer Zensur ist hier nicht zu reden …“(Taz 19./20.03 2011)
[21] „Das radikal Böse … muss bis ins letzte erforscht werden, damit man ihm in der Hoffnung entgegentreten kann, es zu überwinden.“(Claudio Magris, Utopie und Entzauberung, Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne, München 1999, S. 15)
[22] Siehe auch Benno Prieß, Unschuldig in den Todeslagern des NKWD 1946 – 1954, Stuttgart 2005
[23] Innerhalb von vier Monaten wuchs die Zahl der im Speziallager Buchenwald internierten Personen von 1392(eingeliefert vom 20.8. - 17.9. 1945) auf 6000 zum Jahresende an. Nach bisherigen Recherchen befanden sich unter den Internierten eine kleine Gruppe von Hauptschuldigen an den NS-Verbrechen, eine größere Anzahl ehemaliger kleiner und mittlerer Funktionsträger der NSDAP, des nationalsozialistischen Staates und der Wirtschaft, eine Gruppe von Mitgliedern der Hitlerjugend oder Hitlerjugendführer, Angehöriger der Waffen-SS und Offiziere der Wehrmacht und eine Vielzahl von Personen, die infolge von Denunziationen, Verwechslungen und willkürlichen Festnahmen. Über die Anzahl neupolitischer Gegner der Besatzungsmacht und der in der östlichen Besatzungszone entstehenden Ordnung, die in das Speziallager kamen, liegen bislang kaum Erkenntnisse vor. Auch etwa 1000 Frauen – ein geringer Prozentsatz der insgesamt zwischen August 1945 und Februar 1950 im Speziallager 2 internierten 28 455 Menschen(offizielle sowjetische Angabe) – lieferte der sowjetische Sicherheitsdienst hier ein. Mitunter brachten sie Heranwachsende und Kleinstkinder mit.“ Zitiert aus: Buchenwald, Ein Rundgang durch die Gedenkstätte, Weimar-Buchenwald 1993, Seite 74. Es starben offiziellen sowjetischen Dokumenten zufolge 7 113 Menschen. Die Toten wurden in Massengräbern beerdigt. Die Angehörigen erhielten keine offizielle Benachrichtigung. Siehe hierzu Buchenwald Seite 76. -
[24] Siehe hierzu den Abschnitt: Kulturbund-Aktivitäten, in: Geschichte der deutschen Literatur(wie angegeben).
[25] Nur Falladas Schluss, offenbar ein Zugeständnis an die politische Pädagogik des Kulturbundes, mit seinem Ausblick auf die zukünftige Jugend, ist wie tot und erinnert an die stalinistischen Kornfeld-Gemälde in der Moskauer U-Bahn.
[26] So Fallada in der Vorankündigung seines Romans, zitiert nach Kuhnke S. 17